Was würden Sie tun, wenn Sie Kanzler von Deutschland wären? Der Westend-Verlag hat das 24 Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen gefragt. Entstanden ist ein Kaleidoskop politischer Vorstellungen – mit manch einer überraschenden Idee.
Für Rio Reiser war die Sache noch ganz einfach. „Bei der Bundeswehr gäb es nur noch Hitparaden.“ „Die Socken und die Autos würden nicht mehr stinken.“ Und „im Fernsehen gäb es nur noch ein Programm: Robert Lembke vierundzwanzig Stunden lang“. So stellte sich der Sänger die Bundesrepublik vor, wenn er „König von Deutschland“ wäre. Das war 1986.
Knapp 30 Jahre später hat der Frankfurter Westend-Verlag 24 Personen des öffentlichen Lebens – Journalisten, Wissenschaftler und Politiker – befragt, was sie tun würden, wenn sie „Kanzler von Deutschland wär'n“. Herausgekommen ist ein gut 200 Seiten starker Sammelband, herausgegeben vom Journalisten Peter Zudeick, eine Art Wahlprogramm von unten.
Fundiert, begründet, umsetzbar
Die Vorschläge, die die verschiedenen Autoren für ihren Fachbereich machen, sind zwar nicht so originell wie die Lottozahlen eine Woche vorher zu verraten (Rio Reiser). Dafür sind sie fundiert, sachlich begründet und – mit etwas mehr politischem Willen als er zurzeit herrscht – umsetzbar.
So stellt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Ulrich Schneider klare Regeln für menschenwürdige Bezahlung und gegen (Alters)Armut auf: Der Hartz-IV-Regelsatz müsse auf mindestens 420 Euro erhöht, ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro endlich eingeführt werden. „Armutsfeste Renten, ein armutsfestes Arbeitslosengeld, ein würdiger Mindestlohn“, das sind Schneiders Forderungen.
Die Journalistin Ulrike Winkelmann hat sich den Gesundheitsbereich vorgenommen. „Eine Versicherung für alle und von allen, bezahlt aus allen Einkommensarten“, lautet ihre Forderung. Der „Webfehler“ der Aufteilung der Krankenversicherung in einen gesetzlichen und einen privaten Sektor müsse mithilfe einer Bürgerversicherung korrigiert werden.
Von Politikfeld zu Politikfeld
So hangeln sich die Autoren von Politikfeld zu Politikfeld, seien es die Energiewende (der Journalist Jürgen Döschner plädiert nach dem gelungenen Atom- nun auch für einen Kohleausstieg), die Finanzmärkte („Die großen Finanzkonzerne müssen nicht mit Steuergeld alimentiert, sondern zerschlagen und entmachtet werden“, fordert Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht) oder Familienpolitik („Kein Kind darf im Betreuungs- und Bildungssystem abgehängt werden. Dafür brauchen wir ein flächendeckendes, qualitativ hochwertiges Betreuungsangebot“, sagt die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth).
Interessant ist an diesem Kaleidoskop politischer Vorstellungen, wem welches Thema wichtig ist und was er oder sie tun würde, könnte er so handeln wie er wollte – also eher im Reiser'schen Sinne als König denn als Kanzler von Deutschland. Denn letzterer ist schließlich auf die Unterstützung einer demokratische Mehrheit angewiesen. Die Vorschläge sind mitunter erwartbar, aber meist interessant zu lesen und es finden sich auch einige revolutionäre Gedanken darunter.
Zwei kleine Revolutionen
So spricht sich der fraktionslose Bundestagsabgeordnete Wolfgang Nešković für eine Änderung des Grundgesetzes (genauer Artikel 76) aus. Vorlagen für Gesetze sollten nicht, wie es bisher gängigste Praxis ist, mehr von der Bundesregierung eingebracht werden dürfen, sondern allein aus dem Bundestag kommen. „Das deutsche Parlament wäre nun gezwungen, seine Gesetzgebung aus eigener Ideenfindung und eigener Facharbeiter zu entwickeln“, ist Neškovićs Hoffnung.
Im Verhältnis dazu nimmt sich der Journalist Mathias Bröckers eher eines Randthemas an. Da Polizei und Justiz Drogenhandel und -konsum ohnehin nicht kontrollieren könnten und der illegale Markt „in mittelamerikanischen Ländern zu blutigen Bürgerkriegen“ führe, lautet seine Forderung: „Drogen legalisieren – und zwar subito“. Da wäre sicher auch Rio Reiser dabei gewesen.
Peter Zudeick (Hrsg.): Das alles und noch viel mehr würden wir machen, wenn wir Kanzler von Deutschland wär'n, Westend-Verlag 2013, 14,99 Euro, ISBN: 978-3-86489-033-8
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.