Ja, so sind die späten 1960er gewesen: „Das braune Blubbern überall, die Schüsse auf Benno Ohnesorg. Dutschke. Napalm-Chemie aus Rheinland-Pfalz für Bomben auf Vietnam, dieser ganze Irrsinn stieß uns brutal auf.“ So beschreibt Jürgen Kessler das Jahrzehnt, dessen Spuren sich bis auf den heutigen Tag nachweisen lassen. Und mittendrin jener legendäre Mann, der „im klassischen Sinne kein Machtpolitiker“ war: Willy Brandt.

Dies zur Stimmung jener Jahre, die Jürgen Kessler, der Autor der stark autobiografisch geprägten Erzählung „Über den Klippen“, vor dem Leser ausbreitet. Zur Geschichte selbst: Am Tresen einer Mainzer Kneipe lernen sich Manfred Geisert und Jürgen Kessler kennen und beschließen spontan, in den Süden zu fahren. Beide leiden an heftigen Beziehungskrisen, an „virulenten Gefühlen für unsere strapaziösen Frauen“.

Eine Reise in den Süden

Beide – übrigens nicht der gleichen Generation angehörenden – Aussteiger auf Zeit leiden an den versteinerten Verhältnissen, die noch ganz vom Kalten Krieg geprägt sind, und stellen fest, dass sie dieselben Autoren schätzen: Gottfried Benn, Ernst Bloch und Thomas Bernhard. Sie teilen auch den Musikgeschmack, beide schätzen Jazz und Blues.

Unvermittelt fällt ihnen auf Malta eine Zeitung in die Hände, und sie lesen, dass sich der prominente Sozialdemokrat und designierte Präsident der Sozialistischen Internationale für ein paar Tage auf der Nachbarinsel Gozo aufhält.

Ein Rotwein mit Willy Brandt

Schließlich lernen sie ihn kennen und trinken mit ihm ein Glas Rotwein. Viel mehr ist nicht zu erzählen: Das Büchlein hat auch nur, einschließlich einer Kurzbiografie des Autors, 70 Seiten, die man, nacherlebend oder das Zeitgefühl einer Generation, die in die Geschichtsbücher einging, studierend, zügig, aber mit großem Gewinn liest. Erheiterung inklusive. Über die Jahrzehnte arbeitete Kessler als Tourneemanager für Hanns Dieter Hüsch, und dessen feiner Humor hat auf seinen Mitarbeiter abgefärbt.

Der Titel der Erzählung ist wegen der sich zwangsläufig einstellenden Assoziation an Ernst Jünger leicht missglückt, der Untertitel ... na ja. Leider fehlt ein kleines Glossar, denn welcher Nachgeborene weiß schon, dass FDGO für „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ steht?

Leichte Lektüre im besten Sinne. Und Erinnerung an eine Zeit, von der Kessler schreibt: „mehr unbekümmerte Aufbruchsstimmung war nie wieder“.

Jürgen Kessler, Über den Klippen. Als ich Willy Brandt einmal zu Bett brachte – Eine Erzählung. Leinpfad-Verlag, Ingelheim 2013, 72 Seiten, 9,90 Euro. ISBN 978-3-942291-56-9

Lesung in Berlin:

16. September 2013, 18 Uhr, im Willy-Brandt-Forum, Unter den Linden 62-68, 10117 Berlin, Gast: Harald Martenstein
Der Eintritt ist frei, um Anmeldung wird gebeten: info@willy-brandt.de, Tel. 030/787707-0

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Autor*in
Matthias Dohmen

Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.

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