Kultur

Funktionieren unter allen Umständen

von Anina Kühner · 4. Dezember 2013

Der entscheidende Satz des letzten Romans von Erich Loest kommt, wie alle anderen, leise und banal daher, ohne dabei die Tragweite seiner Aussage zu verschleiern: „Sie lebten. Und Frühling war auch.“

Die Stunde Null der Deutschen wirft die Bewohner des Dorfes Mittweidorf auf sich selbst zurück. In Erich Loests letztem Roman „Lieber hundertmal irren“ ist es nicht der äußere Umbruch, der die Menschen in erster Linie bewegt. Persönliche Schicksale, das alltägliche Überleben und das Gespenst des Hungers prägen in dieser minimalistisch erzählten Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs jeden Protagonisten mehr als die große Frage von Schuld und Sühne. Realistisch und subtil wird klar, was Menschen in existentiellen Momenten wirklich bewegt.

Im Zentrum der Geschichte steht Herbert Vogelsberg, altgedienter KPD-Genosse, der Ende 1944 unerwartet aus dem KZ entlassen wird. Die Heimkehr nach Mittweidorf gestaltet sich für den Leser überraschend ausgeglichen, doch die Freude der Familie und der ehemaligen Kollegen kann das allgemeine Gefühl der Angst nicht verdrängen, das sich im NS-Regime selbst in diesen letzten Tagen und selbst in der Provinz hält.

Menschen bleiben dieselben

Vogelsbergs Sohn Joachim ist wie selbstverständlich dabei, sich innerhalb der Hitlerjugend hochzuarbeiten. Daraus resultiert kein Konflikt, kein gegenseitiges Schamgefühl. Vater und Sohn repräsentieren diesen Zustand, keiner von beiden stellt den anderen in Frage. Jeder funktioniert innerhalb des untergehenden Systems auf seine Art.

Loest lässt das den Leser an den Gedanken seiner Figuren teihlhaben, anstatt zu moralisieren. Diese Erzählweise erzeugt einen ungeheuren Sog: „Sein Vater saß stumm dabei, kaute lange. Erinnerte sich an Appellplätze, Abzählen, in die Baracken marsch marsch! Deutschland eben – wann hatte das angefangen?“

Nach dem Umbruch und mit den neuen Sowjet-Besatzern kehrt sich das Verhältnis um: Das KPD-Mitglied Herbert Vogelsberg wird zum Bürgermeister seiner Heimatstadt ernannt, der Sohn wird interniert. Der Lauf der Dinge erscheint selbstverständlich, Menschen bleiben dieselben, die Bedingungen ändern sich.

Schwäche und Traum

An keiner Stelle ist von Visionen die Rede; weder Joachim noch sein Vater sind scheinbar vollständig von dem überzeugt, was sie vertreten. So bleibt in letzter Konsequenz nur Herberts Gedanke: „Ist schon richtig, lieber hundertmal mit der Partei irren, als sich einmal gegen sie stellen.“ In diesem einen Satz bündelt sich alles, was Loest vermittelt. Das System macht nicht den Menschen aus.

Am Ende dieses schmalen Romans bleibt man resigniert und ein wenig desillusioniert zurück. Erich Loest ist dennoch – oder gerade deswegen – ein großartiges Buch gelungen, weil es den Menschen auf das herunterbricht, was er eben ist: Ein Mensch, der in jedem System, unter allen Umständen immer genau das bleibt. Mit Schwächen und Träumen behaftet und hungrig. Und was bewirkt der Systemwechsel? „Die Schlageterstraße wird in August-Bebel-Straße umbenannt, die Blücher-Straße in Gorki-Straße.“ Die Menschen bleiben dieselben.

Erich Loest: „Lieber hundertmal irren“, Steidl Verlag, Göttingen 2013, 128 Seiten, 16 Euro, ISBN 9783869306650

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Anina Kühner

studiert Germanistik und Buchwissenschaften in Mainz. Im Sommer 2012 absolvierte sie ein Praktikum beim vorwärts.

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