Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Eine Fernseh-Dokumentation zeichnet das Leben des Ausnahmepolitikers in Zeitzeugengesprächen und Originalaufnahmen nach. Heute Abend läuft sie auf Arte.
„Wenn wir jetzt die Schule verlassen, müssen wir ehrlich feststellen, dass sie uns nichts Wesentliches für unseren Lebensweg mitgegeben hat.“ So lautete eines der drei Themen, die die Abiturienten des Lübecker „Johanneums“ 1931 für ihren Prüfungsaufsatz zur Auswahl hatten. Zwei Schüler entschieden sich dafür. Nur einer wagte den Versuch, die Aussage zu beweisen. Sein Name war Herbert Frahm. Zwei Jahre später floh er vor den Nazis ins Ausland und nahm einen Decknamen an, unter dem er später berühmt werden sollte: Willy Brandt.
Der Regisseur André Schäfer beginnt seine Dokumentation „Willy Brandt – Erinnerungen an ein Politikerleben“ mit dem Schulaufsatz, indem er seinen Protagonisten selbst darüber erzählen lässt. Es muss in den sechziger Jahren sein als Brandt darüber in lockerer Runde berichtet. Schäfer hat die Schwarz-Weiß-Szene in seinen Film eingebaut.
Brandts Leben in 90 Minuten
„Zum 100. Geburtstag Willy Brandts wollte ich einen Film machen, der die Aura und Anziehungskraft dieses Politikers besonders auf meine Generation ergründen sollte“, sagt der 1966 geborene Schäfer. Dafür hat er Originalszenen aus Brandts politischem Leben und Interviews mit Wegbegleitern, Freunden und Familienangehörigen gemischt. Ganz ohne Kommentar lässt Schäfer sie berichten und zeichnet in 90 Minuten Brandts Leben von der Schulzeit bis zum Tod in Unkel 1992 nach.
„Die skandinavischen Sozialdemokraten waren die beste Schule, die ich haben konnte“, erinnert sich der Journalist Gunter Hofmann an eine Aussage Brandts über dessen Exil-Zeit in Norwegen. Und Egon Bahr berichtet von seiner ersten Begegnung nach Brandts Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin. „Ich werden Ihnen immer sagen, was ich denke – auch wenn es Ihnen nicht gefällt“, habe er ihm damals versprochen. „Wenn es zu schlimm wird, bitte nur unter vier Augen“, habe Brandt nach kurzem Überlegen geantwortet. „Das war unsere Arbeitsbasis, von der sich alles andere entwickelte.“
Diffamierung und Frauengeschichten
Klar und schnörkellos erzählt André Schäfer Brandts „Politikerleben“ nach, ohne das Persönliche auszusparen. Seine uneheliche Geburt und deren Instrumentalisierung durch den politischen Gegner wie Strauss und Adenauer (die die Journalistin Wiebke Bruhns als „absurd und bis in die Knochen bösartig“ bezeichnet) werden ebenso wenig verschwiegen wie die Gerüchte um Frauengeschichten und die Rolle von Brandts Ehefrau Rut. „Sie hat am besten (von allen Kanzlerfrauen) die Bundesrepublik repräsentiert“, befindet Brandts ehemaliger Redenschreiber Klaus Harpprecht und Sohn Peter Brandt beschreibt sie einfach als „menschenliebenden Menschen“.
Einen großen Platz in Schäfers Porträt nimmt schließlich der Rücktritt Brandts nach der Affäre um den Stasi-Agenten Günter Guillaume ein. Auch hier durchleuchtet der Filmemacher neben den objektiven Vorgängen vor allem das Menschliche hinter den Vorgängen, besonders die Wirkung auf Brandt selbst. „Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor den ungeschriebenen Regeln der Demokratie und auch, um meine persönliche und politische Integrität nicht zerstören zu lassen“, lässt er den Ex-Kanzler mit schnarrender Stimme selbst zu Wort kommen.
Noch heute Unverständnis
Bei den Zeitzeugen ruft Brandts Rücktritt noch heute Unverständnis hervor. „Innenminister Genscher hätte zurücktreten müssen“, meint Klaus Harpprecht. Schließlich habe er es versäumt, Guillaume ausreichend überwachen zu lassen. Für den Journalisten Gunter Hofmann hatte Brandts Rücktritt noch weiter reichende Folgen. „Seine Kanzlerschaft blieb dadurch objektiv unvollendet.“
Was hätte ein Bundeskanzler Willy Brandt noch alles bewirken können, wäre seine Amtszeit nicht so abrupt zuende gegangen? Antworte auf diese Frage lässt André Schäfers Film nur erahnen. Möglicherweise wäre der soziale Wandel noch tiefer greifend gewesen, die deutsche Einheit schneller gekommen. Klar ist hingegen, was Werner Perger ausspricht: „Willy Brandt hat dem Land viel mehr gegeben als das Land ihm gegeben hat.“
Willy Brandt – Erinnerungen an ein Politikerleben
Dienstag, 10. Dezember, um 20:15 Uhr auf Arte
Dienstag, 17. Dezember, um 22:45 in der ARD
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.