Geschichte

Willy Brandt: Ein grandioser Menschenfischer

von Albrecht Müller · 26. August 2013

Seine erfolgreichen Wahlkämpfe sind Legende. Er mobilisierte die eigenen Anhänger, denn nur mit ihnen waren und sind Wahlen zu gewinnen.

Der Vergleich zwischen Ausgangslage und Ergebnis des Wahlkampfes von 1972 sagt alles über den Wahlkampfprofi Brandt. Beim Startschuss zur Wahl, bei der Auflösung des Bundestags am 22. September, sahen Umfragen die Union bei 51 Prozent; bei der Wahl am 19. November waren es nur noch 44,9 Prozent. Und die SPD hatte mit 45,8 Prozent der Zweitstimmen ihr historisch bestes Ergebnis errungen.

Die schwierige Ausgangslage wird in den meisten historischen Betrachtungen unterschlagen – obwohl die Hypotheken offensichtlich waren: Im Mai ein gescheiterter Haushalt, im Juli der Rücktritt von Superminister Karl Schiller, Anfang September der Überfall auf die israelische Olympiamannschaft in München, und zu guter Letzt mussten Sozialdemokraten bei der von Brandt am 20. September gestellten Vertrauensfrage auch noch gegen sich selbst stimmen. – Sogar in der SPD-Führung hatten einige die Wahl schon als verloren abgehakt. Brandt war ziemlich allein und kämpfte trotzdem.

Mit ihm Wahlkampf zu machen war ein großes Vergnügen. Er hatte Biss, er verstand, wie komplex ein erfolgreicher Wahlkampf sein muss.

Willy Brandt wusste, dass die SPD nur ausreichende Mehrheiten zusammenbringt, wenn sie die Vielfalt ihres Wählerpotenzials anerkennt und nutzt. Heute sagt man, Geschlossenheit sei das oberste Gebot. Mit Willy Brandt war es möglich, der Wirklichkeit entsprechend zu sagen: Eine große Partei wie die SPD besteht aus vielen Strömungen. Und keine muss niedergemacht werden.

Dieses tolerante Bekenntnis zur vielfältigen SPD war der konzeptionelle Hintergrund für die erste Anzeige im Rahmen der sogenannten „Tomi-Ungerer-Kampagne“: „In Sachen SPD. Wir gegen uns“ hieß die Überschrift.
Willy Brandt hat das Drehbuch für den Wahlkampf genau studiert, er ist einen Nachmittag lang die Strategie und die einzelnen Kampagnen durchgegangen, er hat korrigiert und ergänzt.

Im Drehbuch war vorgeschlagen, die Schachzüge des Gegners vorherzusagen und so zu entschärfen. So war zum Beispiel erkennbar, dass die Union und ihre Hilfstruppen den Begriff Sozialismus diffamierend nutzen wollten. Also startete die SPD eine Kampagne unter der Überschrift „Erfolg von 109 Jahren Demokratischem Sozialismus“ und besetzte so den Begriff nach eigenem Gusto.

Willy Brandt hatte verstanden, dass ein Wahlkampf ohne Emotion nahezu verpufft. Also warb er um Mitleiden und Solidarität mit anderen Menschen. Und er sprach von „Versöhnung“ z.B. mit Polen und Russen, wenn er die neue Ostpolitik erläuterte, und er unterstützte die emotionalen Szenen in den Fernsehspots: Deutsche im Osten und Westen, die sich endlich wieder begegnen konnten, sich umarmten, mit Tränen in den Augen. 

Brandt hatte begriffen, dass die SPD Wahlen nur gewinnen kann, wenn sie die eigenen Anhänger als Zeugen und Multiplikatoren gewinnt. Er war selbst ein Menschenfischer und hat die Aktionen zum Aufbau einer Gegenöffentlichkeit zur Springer-Presse und anderen konservativen Medien voll unterstützt.
Willy Brandt vermochte Brücken zu schlagen zu Bevölkerungskreisen, die bis dahin die SPD distanziert bis feindselig verfolgten. Er konnte aber auch angreifen.

Die SPD ahnte, dass die Union finanzkräftige Hilfstruppen in Bewegung setzen wird. Im Wahlkampf erschienen dann 100 (!) verschiedene meist anonyme Anzeigen mit bösartigen Texten.

Die SPD konterte mit der Frage an den CDU/CSU-Spitzenkandidaten Rainer Barzel, was er für die anonymen Millionen des Großen Geldes versprochen habe. Diese SPD-Attacke war so wirksam, dass Willy Brandt bei der letzten Fernsehdiskussion, der so genannten Elefantenrunde aller Parteivorsitzenden, vier Tage vor der Wahl darauf verweisen konnte, dass in der heutigen Bild-Zeitung gleich acht anonyme Anzeigen für die Union warben. Er nutzte in Judomanier die Kraft des Gegners für den Konter. Und dieser saß.

*Albrecht Müller managte den SPD-BundestagsWahlkampf 1972. Er schrieb das Buch „Willy wählen ’72. Siege kann man machen“

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Albrecht Müller

ist SPD-Politiker und Publizist

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