Eben noch im wilden Clubleben, plötzlich im Schatten von Auschwitz: In „Die Lebenden“ arbeitet die österreichische Regisseurin Barbara Albert ihre belastete Familiengeschichte auf.
„Alle wollen immer die Wahrheit hören. Als ob das schon die Lösung wäre!“ Die Worte eines entfernten Verwandten am Grab des Großvaters sind für Sita ein Schlag ins Gesicht. Doch was ist die Lösung, wenn eine ohnehin verunsicherte junge Frau vor wenigen Tagen erfahren hat, dass ihre Bezugsperson als Wachmann der SS in Auschwitz Dienst getan hat? Und von der sie eben gerade Abschied genommen hat, ohne eine Antwort auf ihre Fragen bekommen zu haben?
Dass ein geliebter Mensch Teil der Mordmaschinerie der Nazis war, wirft die 25-Jährige aus der Bahn. War die Rastlose doch in der Hoffnung nach Wien gereist, sich anlässlich von Opas 95. Geburtstag ein paar Tage lang im Kreis der Familie gut aufgehoben zu fühlen. Ganz anders als in Berlin, wo sie Porträtvideos für eine Castingshow dreht und auch sonst wenig Bestätigung über den Moment hinaus findet. Gierig stürzt sie sich in spontane Affären an der Uni und in Clubs.
Die Lebenden
Ein einziger Moment zerreißt die fragile Wiener Glückseligkeit: Zufällig stößt Sita auf ein Foto, das Gerhard Weiss, ihren Großvater, im größten deutschen Vernichtungslager zeigt. Weder er noch ihr Vater, der in Auschwitz geboren wurde, kann ihr erklären, wie Menschen den Schrecken jenes Ortes ausblenden konnten, um den Traum vom jungen Familienglück zu leben. Also macht sich Sita auf den Weg nach Warschau, um weiteren Hinweisen auf die SS-Jahre von Gerhard Weiss nachzugehen und das gewohnte Bild des feingeistigen Menschenfreundes gründlich zu überprüfen. Nach dessen plötzlichem Tod scheint der Weg für einen emotionalen Neuanfang frei zu sein: Doch ausgerechnet jetzt kommt ihr jener Michael Weiss, den sie als Verbündeten wähnte, mit einer zutiefst verunsichernden Lektion in Sachen Wahrheit!
Keine Schuld nirgends
Es ist die Schlüsselszene dieses Films: Wer sonst sollte Ordnung in dieses Chaos bringen, das Sitas Herz und Kopf überfordert, wenn nicht jener Ausgestoßene der Familie, der bereits vor Jahrzehnten einen Roman veröffentlicht hatte, dessen Hauptfigur Gerhard Weiss zum Vorbild hatte? Nach dem schroffen Auftakt öffnet sich Michael Weiss dem fahrigen Forschungsdrang Sitas: Tonband für Tonband arbeitet sie sich durch die Interviews, die Michael Weiss mit dem Großvater geführt hatte: Keine Spur von Schuldbewusstsein findet sich darin. Stattdessen erleben wir mit, wie ein alter Mann mit theatralischem Zittern Einsichten wie „Gewohnheit ist die größte Macht auf Erden“ ausbreitet.
Was geht in Sita dabei vor? Welches Bild von ihrer Bezugsperson und damit auch von sich selbst wird sie künftig haben? Der Zuschauer kann es nur ahnen. So getrieben wie Sitas Nachforschung ist auch die Erzählweise von „Die Lebenden“: Regisseurin Barbara Albert hetzt zwischen Berlin, Wien, Warschau, Siebenbürgen und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau hin und her. Doch bei der psychischen und geistigen Entwicklung ihrer Protagonistin kratzt sie nur an der Oberfläche.
Anstatt Sitas Innensicht auf den Grund zu gehen, konzentriert sich die Kamera zwischen den Dialogszenen ausgiebig auf ihre äußere Umgebung: Immer wieder grasen wir mit ihr unterm düsteren Berliner Himmel Touristen-Hotspots ab oder beobachten Vogelschwärme, ohne dass sich der tiefere Sinn dieser Sequenzen „am Puls des Heute“ erschließt. Mag Albert darin auch die von ihr ins Feld geführten Leitaspekte wie „Heimatlosigkeit“, „Selbstfindung“, „Hoffnung“ und „Verantwortung“ symbolisiert sehen. Zuschauer fühlen sich an die Tiefe eines Videoclips erinnert.
Ausgebremste Stars
Die Leere, die der immerhin subtil fotografierte, und damit zumindest auf der Bildebene mitunter spannungsgeladene Film hinterlässt, wirft einige Fragen auf. Vor allem, warum die Dialoge innerhalb dieses hervorragenden, aber ausgebremst wirkenden Ensembles so blass bleiben. Immerhin trägt das Ganze starke autobiografische Züge. Auch Albert, deren Migrantendrama „Nordrand“ 1999 im Rennen um den Goldenen Löwen war, erfuhr erst vor wenigen Jahren vom Wachdienst ihres Großvaters in Auschwitz, hinzu kommt der Bezug zu den Siebenbürger Sachsen. Viele von ihnen wurden nach dem Krieg von Tätern zu Verfolgten. Spiegeln die Leerstellen im Drehbuch Alberts eigene Blockaden wider? Wie weit reichen die von den Geldgebern verlangten Glättungen?
Immerhin sprach ihr Ansatz, die Verunsicherung in der Gegenwart mit der Verunsicherung durch die Vergangenheit zu verknüpfen, für einen Weg, ein historisches Phänomen wie den Holocaust und den Umgang damit an einem Menschen konkret zu machen: Also die „Bewältigung“ der Vergangenheit im Jetzt und darüber hinaus abzubilden. Zudem vor dem Hintergrund, dass Sita neben ihren Recherchereisen auch noch ein wechselvolles Abenteuer mit einem israelischen Foto-Künstler durchlebt. Doch auch das Potenzial dieser Konstellation verpufft weitgehend. Dass die ungestüme, teils ungezügelte Emotionalität, mit der Hauptdarstellerin Anna Fischer zu Werke geht, trotzdem haften bleibt, grenzt fast ein Wunder.
Info: „Die Lebenden“ (Österreich 2012), Buch und Regie: Barbara Albert, mit Anna Fischer, August Zirner, Hans Schuschnig, Winfried Glatzeder u.a.,112 Minuten. Ab sofort im Kino