Kultur

Modell Willy Brandt vs. Merkiavelli

von Birgit Güll · 14. Juni 2013

„Die Welt erlebt die Sterblichkeit der Europäischen Union“, sagt Ulrich Beck im Berliner Willy-Brandt-Haus. Vier Jahre massive Sparprogramme hätten Millionen von EU-Bürgern den Glauben an die Gestaltungskraft der Politik geraubt, so Beck. Die Schwachen der Gesellschaft – Studenten, Rentner, Arbeiter – seien die Verlierer der Finanzmarktkrise. „Wo bleiben die Mitte-links Parteien, die in ihrer Geschichte immer auf Seiten der Schwachen standen?“, fragt Beck in der SPD-Zentrale.

Mehr Willy Brandt wagen

Beck liefert sein Krisenkonzept mit. Im Mittelpunkt müsse künftig die Frage stehen: Was hat jeder Einzelne von Europa? Was die Europäische Union jetzt brauche sei „die realistische Utopie eines sozialen Europas“, erklärt der Soziologe. Ein Quasi-Wohlfahrtsstaat, in dem über Abgaben soziale Sicherung möglich werde und die Verursacher der Finanzmarktkrise haftbar gemacht würden.

Der Soziologe wirbt in seinem Vortrag für eine Politik, die nationalstaatliche Grenzen überwindet. Es gelte Verantwortung für die europäischen Nachbarn zu übernehmen. Nicht stets auf die innenpolitische Wählbarkeit schielen, sondern in großen Zusammenhängen zu denken und zu handeln. So habe Willy Brandts Ostpolitik funktioniert: Über internationale Bündnispartner, „kosmopolitisch aber patriotisch“, sagt Beck und plädiert dafür, mehr Willy Brandt zu wagen.

Ein deutsches Europa oder ein europäisches Deutschland?

Ganz anders Angela Merkels „Merkiavelli“-Modell: Eine Europapolitik, die sich nur an den nationalen Interessen orientiere, wie Beck sagt. Die Kanzlerin stehe für ein deutsches Europa. Sie übernehme keine europäische Verantwortung und verweigere den Krisenländern das, was Deutschland geholfen habe: öffentliche Investitionen. Das Gegenmodell dazu müsse, so Beck, ein europäisches Deutschland sein: Verantwortung übernehmen und soziale Gerechtigkeit in Europa möglich machen. Hier sieht der Soziologe die Sozialdemokratie in der Pflicht.

Peer Steinbrück macht deutlich, dass die SPD für ein europäisches Deutschland steht. „Uns wird es ökonomisch immer nur so gut gehen, wie es unseren Nachbarn gut geht“, sagt Steinbrück. Europapolitik müsse sich aus nationalen Interessen und aus einer europäischen Verantwortung zusammensetzen. Deutschland dürfe niemals seine Geschichte vergessen: Trotz der nationalsozialistischen Verbrechen hätten die Nachbarstaaten Deutschland eingeladen, sich an der europäischen Integration zu beteiligen. Die Europäische Union sei die Antwort auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, so der Kanzlerkandidat.

Ein Marshall Plan in Europa

Die Europäische Union stehe derzeit vor ihrer schwierigsten Bewährungsprobe. Handeln tut Not. Es gelte sofort etwas gegen die enorme Jugendarbeitslosigkeit zu tun, die in Ländern wie Spanien inzwischen über 50 Prozent liege, sagt Steinbrück. Und Europa müsse – in all seiner Vielfalt – zusammenstehen gegen die Erpressungsversuche von Spekulanten. Das Primat liege nicht bei völlig entgrenzten Märkten, sondern bei demokratisch legitimierten Volksvertretern.

Es reiche nicht, „uninspiriert von einem Rettungsgipfel zum nächsten zu Reisen“, sagt Steinbrück. „Über den meisten Gipfeln ist Ruh’“, erklärt der Kanzlerkandidat. Es sei nötig über eine Art Marshall Plan innerhalb der Europäischen Union zu sprechen. Es gelte ein soziales Europa möglich zu machen, mit einheitlichen sozialen Standards, Arbeitsnormen und sozialen Sicherungssystemen.

Um das zu erreichen, müsse Europa gestärkt werden. Bisher sei das Europaparlament schwächer als jedes nationale Parlament. „Es braucht mehr Rechte“, sagt Steinbrück. Dazu werde es nötig sein, staatliche Souveränität an das EU Parlament abzutreten. Und Europa müsse erfahrbar werden, so Steinbrück. Erasmus-Austauschprogramme nicht nur für Studenten, massive Investitionen in sprachliche Bildung. Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie und Erfinder der Reihe „Philosophie trifft Politik“ formulierte es so: „Die Leute müssen Europa als ihre eigene Angelegenheit wahrnehmen, nicht als Eliten-Projekt.“

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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