EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) weist im vorwärts-Interview die Kritik des britischen Premierministers David Cameron zurück. Zugleich er mahnt die Europäer: „Wenn wir uns in unsere Einzelteile zerlegen, werden wir in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.“
vorwärts: Der britische Premier David Cameron will ein Referendum über den Verbleib in der EU anstoßen. Was halten Sie davon?
Martin Schulz: Das ist parteitaktisch motiviert, um die EU-Skeptiker in seiner Partei zu beruhigen. Schon jetzt hält sich Großbritannien aus vielen EU-Projekten heraus, beispielsweise aus dem Euro, dem Schengen-Abkommen und bei der Sozialcharta. Gleichzeitig leidet die britische Wirtschaft erheblich und die Arbeitslosigkeit steigt. Ich befürchte, dass ein EU-Austritt den Menschen auf der Insel erheblich schaden würde.
Kann ein solches Vorhaben nicht auch eine Stärkung der Demokratie in Europa sein?
Die derzeitige Krise müssen wir mit den vorhandenen Instrumenten in den Griff bekommen. Das geht auch. Denn wenn die Hütte brennt, diskutiert man nicht, ob man neue Feuerwehrautos baut, sondern man löscht das Feuer. Mittelfristig werden wir aber sicher die Kompetenzen zwischen Mitgliedsstaaten und EU klarer benennen und die EU demokratischer und transparenter machen müssen. Das mag dann zu einer europäischen Verfassung führen, die man den Menschen in Europa zur Abstimmung vorlegen muss. Aber wenn ein einzelnes Land sich Sonderkonditionen herauspicken will, stärkt das nicht die Demokratie in Europa, sondern dann zerstört das die EU.
Oder schadet der Vorstoß der Staatengemeinschaft, die durch die
Wirtschaftkrisen etwa in Griechenland oder Spanien ohnehin gebeutelt ist?
Europa ist in den vergangenen Jahrzehnten stark geworden, weil wir uns untergehakt haben. Wir sind gemeinsam stark geworden und haben unseren Kontinent zu der reichsten und sichersten Region weltweit gemacht. Wenn wir uns nun in unsere Einzelteile zerlegen, werden wir in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Die Solidarität mit Südeuropa ist in unserem eigenen Interesse, weil Deutschland als Exportland ein großes Interesse an einer stabilen Eurozone haben muss.
Können Sie Camerons Kritik an der EU nachvollziehen?
Nein. Cameron hat viele Dinge, die er kritisiert, selbst zu verantworten. Das Europaparlament hat genug Vorschläge gemacht, wie wir die Krise bekämpfen und gleichzeitig soziale Ungerechtigkeiten vermeiden, wie wir die EU effizienter, demokratischer und transparenter machen können, und oft war es Großbritannien, das reflexartig "Nein" zu allem gesagt haben. Aus diesem Grund haben so wenige in Europa Verständnis für den Vorstoß des britischen Premierministers.
Wo gibt es Ihrer Ansicht nach akuten Handlungsbedarf?
Es ist wichtig, dass die Verursacher der Krise auch an den Kosten beteiligt werden. Deshalb bin ich so froh, dass nun die Finanztransaktionssteuer kommen wird, auf die das Europaparlament und die europäische Sozialdemokratie schon so lange gedrängt haben. Wir brauchen diese neuen Einnahmen, um ein Wachstums- und Beschäftigungspaket zu schnüren, um Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen und um Investitionen in Zukunftstechnologien zu ermöglichen. Im institutionellen Bereichen werden wir ein echtes Gewaltenteilungsmodell in Europa hinbekommen müssen, wie wir es aus den Nationalstaaten kennen.
Mit welchen Argumenten würden Sie die britischen Wähler von den Vorzügen
einer EU-Mitgliedschaft überzeugen?
In dem ich eine Frage stelle: Wie würde es uns gehen, wenn wir die EU nicht hätten? Wenn wir die nationalen Währungen wieder einführten, die Grenzen wieder hochzögen und jedes europäische Land selbst versuchte, mit den großen Handelsmächten weltweit über Klimaschutz, Sozialstandards und anderes zu verhandeln. Da würden wir schnell sehen, dass das nicht funktioniert. Deshalb sage ich: Wir müssen die EU besser machen und an einigen Stellen auch Kompetenzen wieder zurückübertragen, wo sich eine europäische Zuständigkeit nicht bewährt hat – aber ohne den europäischen Zusammenschluss werden wir unseren Wohlstand im 21. Jahrhundert nicht bewahren können.