Geschichte

Arbeiter sind wir alle...

von Die Redaktion · 8. Februar 2013

Für Ferdinand Lassalle ist der Kampf für den Arbeiterstand gleichbedeutend mit dem Kampf für Demokratie.

Vortrag von Ferdinand Lassalle:
(gelesen von Wolfgang Völz)

"Am 24. Februar 1848 brach die erste Morgenröte einer neuen Geschichtsperiode an. An diesem Tage brach nämlich in Frankreich ... eine Revolution aus, die ... als den Zweck des Staates die Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen aussprach, und das allgemeine und direkte Wahlrecht proklamierte ...

Arbeiter sind wir alle, insofern wir nur eben den Willen haben, uns in irgend einer Weise der menschlichen Gesellschaft nützlich zu machen. Dieser vierte Stand, in dessen Herzfalten daher kein Keim einer neuen Bevorrechtung mehr enthalten ist, ist eben deshalb gleichbedeutend mit dem ganzen Menschengeschlecht. Seine Sache ist daher in Wahrheit die Sache der gesamten Menschheit, seine Freiheit ist die Freiheit der Menschheit selbst, seine Herrschaft ist die Herrschaft aller.

Wer also die Idee des Arbeiterstandes als das herrschende Prinzip der Gesellschaft anruft ..., der stößt nicht einen die Klassen der Gesellschaft spaltenden und trennenden Schrei aus; der stößt vielmehr einen Schrei der Versöhnung aus, einen Schrei, der die ganze Gesellschaft umfaßt, einen Schrei der Ausgleichung für alle Gegensätze in den gesellschaftlichen Kreisen, einen Schrei der Einigung, in den alle einstimmen sollten, welche Bevorrechtung und Unterdrückung des Volkes durch privilegierte Stände nicht wollen, einen Schrei der Liebe, der, seitdem er sich zum ersten Male aus dem Herzen des Volkes emporgerungen, für immer der wahre Schrei des Volkes bleiben, und um seines Inhalts willen selbst dann noch ein Schrei der Liebe sein wird, wenn er als Schlachtruf des Volkes ertönt …

Schon ein sehr mäßiger Instinkt sagt den Gliedern der unteren Klassen, daß, sofern sich jeder von ihnen bloß auf sich bezieht und jeder bloß an sich denkt, er keine erhebliche Verbesserung seiner Lage für sich hoffen kann ...

Dies sind die Gründe, meine Herren, weshalb die Herrschaft des vierten Standes über den Staat eine Blüte der Sittlichkeit, der Kultur und Wissenschaft herbeiführen muß, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ...

Der vierte Stand hat nicht nur ein anderes formelles, politisches Prinzip als die Bourgeoisie, nämlich das allgemeine direkte Wahlrecht an Stelle des Zensus der Bourgeoisie, er hat ferner nicht nur durch seine Lebensstellung ein anderes Verhältnis zu den sittlichen Potenzen als die höheren Stände, sondern er hat auch — zum Teil infolge hiervon — eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie.

Die sittliche Idee der Bourgeoisie ist diese, daß ausschließend nichts anderes als die ungehinderte Selbstbetätigung seiner Kräfte jedem einzelnen zu garantieren sei.

Wären wir alle gleich stark, gleich gescheit, gleich gebildet und gleich reich, so würde diese Idee als eine ausreichende und sittliche angesehen werden können.

Da wir dies aber nicht sind und nicht sein können, so ist dieser Gedanke nicht ausreichend und führt deshalb in seinen Konsequenzen notwendig zu einer tiefen Unsittlichkeit. Denn er führt dazu, daß der Stärkere, Gescheitere, Reichere den Schwächeren ausbeutet und in seine Tasche steckt.

Die sittliche Idee des Arbeiterstandes dagegen ist die, daß die ungehinderte und freie Betätigung der individuellen Kräfte durch das Individuum noch nicht ausreiche, sondern daß zu ihr in einem sittlich geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müsse: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und die Gegenseitigkeit in der Entwicklung."

Auszüge aus einem Vortrag, gehalten am 12. April 1862 in Berlin im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt, erster Abdruck im Verlag Carl Nöhring, Berlin 1862.


Weil für uns Lassalles Worte noch heute von Bedeutung sind, haben wir ihm eine neue Stimme verliehen. Den Vortrag von Wolfgang Völz finden Sie hier: Wolfgang Völz liest Lassalle  

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