Tausende Bürgerbriefe erreichen die Abgeordneten in Deutschlands Parlamenten Tag für Tag. Was bewegt die Schreiber? Eine Szenische Lesung in Berlin versucht, Antworten zu geben.
Sie kommen im Umschlag, elektronisch oder fallen aus dem Faxgerät. Tausende Bürgerbriefe erreichen die Abgeordneten von Bundestag und Landesparlamenten Tag für Tag. Ernst gemeinte Anliegen mischen sich mit Beschimpfungen, Visionen für eine andere Politik mit den Ergüssen Verrückter – ein idealer Stoff also, um ihn auf die Theaterbühne zu bringen.
Der Regisseur Carsten Meeners und die Dramaturgin Julia Hawlitschek haben genau das getan. Aus verschiedenen Abgeordnetenbüros deutscher Parlamente haben sie Zuschriften zusammengetragen und in einer szenischen Lesung verarbeitet. Der Clou: Die Inhalte sind anonymisiert, aber echt. „Bohnen und Kartoffeln heute frisch“ lautet der Name des Experiments, das bereits zweimal im „Theater im Kino“ in Berlin-Friedrichshain zu erleben war.
Die Bundeskanzlerin als Satanistin
Da wird der frühere Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, in einer Zuschrift gefragt, ob er mit einer Frau Trittin in Essen verwandt sei. Ein anderer Schreiber fordert, „Bordelle und FKK-Einrichtungen mit Whirlpool“ zu verbieten. Die Bundeskanzlerin wird verdächtigt, Satanistin zu sein und ein vermeintlich Auserwählter plant, ein „Jesus-Uwe-Netzwerk“ aufzubauen. Und München, so fordert ein weiterer Bürger, solle zur Hauptstadt der Bundesrepublik erklärt werden.
Es sind menschliche Schicksale, die sich hinter den Briefen verstecken, deren Inhalte die sieben Darsteller in „Bohnen und Kartoffeln heute frisch“ in eindrucksvoller Weise auf die Bühne bringen. Sie geben den körperlosen Briefeschreibern eine Stimme, interpretieren deren Beweggründe, sich an die Politik zu wenden und schaffen so eine Art basisdemokratisches Kaleidoskop der Bürgermeinung.
Dabei legen es Carsten Meeners und Julia Hawlitschek nicht auf Effekthascherei an. Sie wollen keine Freakshow auf die Bühne bringen, sondern zeigen, was die Deutschen bewegt, was sie ihren Volksvertretern mitteilen wollen, welche Fragen sie haben, welche Ängste und Nöte.
Mitgefühl und Lachen
So erklärt ein Briefeschreiber in Loriot-Manier, wie Radfahrer „in Vollzeit“ die Stromversorgung übernehmen könnten und dabei 50 000 bis 70 000 Arbeitsplätze geschaffen würden. Ein anderer Schreiber warnt mit Engelsstimme vor einem „Überfremdungsholocaust“ und ruft zum „allgemeinen Volksaufstand“ auf. Und eine junge Frau behauptet, sie sei „das Mädchen, über das Herbert Grönemeyer singt“.
Den Darstellern gelingt es während der Lesung allein durch ihre Stimmen eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Zuschauer zwischen Widerspruch und Mitgefühl, zwischen Lachen und Weinen hin und her gerissen werden und in der der letzte Lacher ein ums andere Mal droht im Hals stecken zu bleiben. Am Ende brechen alle Dämme und alles redet durcheinander. Der Rest ist Gemurmel.
weitere Vorstellungen:
23. und 24. November 2013, jeweils um 20 Uhr
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.