Die Annäherung an Willy Brandt ist die Annäherung an einen Mann, der zum Mythos geworden ist – weit über die Sozialdemokratie hinaus. Am 18. Dezember vor hundert Jahren wurde er in Lübeck geboren. Die Stadt feierte ihren berühmten Sohn am Freitag mit einem Festakt, mit Weggefährten und mehr als 400 Gästen in der St. Petri Kirche.
Die Erinnerung an Willy Brandt ist eine Reise zurück in eine Zeit, in der Politik begeistert – von der Arbeiterschaft bis weit hinein ins Bürgertum. Eine Zeit, in der die Mitgliederzahlen der SPD die Millionengrenze knacken und in der es in den Wohnzimmern still wird, wenn im Radio oder Fernsehen die kratzige Stimme und das rollende „R“ Willy Brandts erklingen.
Liberalität lernen
Wer war dieser Mann, der mit 15 Jahren von sich sagte: „Ich fühle mich politisch erwachsen.“ Kinderfreunde, Falken, Sozialistische Arbeiterjugend prägen Willy Brandt. Die Nationalsozialisten kommen an die Macht, er flieht nach Norwegen, das Land wird seine neue Heimat. In Skandinavien lernt eine Gesellschaftsform kennen, die sein zukünftiges Denken prägt. „In Norwegen fand er zivile Liberalität und liberale Zivilität“, so Björn Engholm, Weggefährte, Lübecker, ehemaliger SPD-Parteivorsitzender und Ministerpräsident von Schleswig-Holstein in seiner Festrede.
In Norwegen erlebt der bisher eher von politischen Grabenkämpfen und ideologischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit geprägte „Arbeiterjunge von der Wasserkante“ eine pragmatische Reformpolitik, die sein späteres Handeln prägen wird. Diese zweite politische Sozialisation wird zum Glücksfall für Deutschland. Sie führt dazu, dass 1969 mit Willy Brandt ein sozialdemokratischer Kanzler an die Macht kommt, der mit „den Verkrustungen der konservativen Politik Schluss macht“ und „Deutschland in die Moderne führt“, so Engholm.
Durch überzeugen gewinnen
„Norwegen war für ihn die Lehre, dass Sozialdemokratie diskutieren heißt und durch überzeugen gewinnen.“ Das sagt Egon Bahr, der 1960 Pressechef des Berliner Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt wird und ihm später nach Bonn folgt. Er ist neun Jahre jünger als Willy Brandt und hat seinen politischen Weg begleitet und mitgeformt wie kein anderer. 1969 wird Willy Brandt Kanzler der sozialliberalen Koalition. Brandt spürt die Unruhe in der Bevölkerung, die sich Luft macht in der Außerparlamentarischen Opposition, die aber bis in weite Teile des Bürgertums hinein reicht. Und er krempelt Deutschland um.
Die Slogans aus seiner Regierungszeit – „Mehr Demokratie wagen“, „Aufstieg durch Bildung“, „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“, „Wandel durch Annäherung“ – sind ins kollektive Gedächtnis dieses Landes eingegangen. Der Muff von tausend Jahren, er wurde in der Regierungszeit dieses Ausnahmekanzlers nicht nur unter den Talaren hinweggefegt. Egon Bahr: „Willy Brandt hat Deutschland in die Moderne geführt.“ Und er hat, so der SPD-Landesvorsitzende Ralf Stegner, „das heutige Deutschland und die Sozialdemokratie geprägt wie kein anderer.“
Brandt war "ein Hoffender"
War er ein Visionär? Björn Engholm zitiert einen Satz des britischen Schriftstellers Oscar Wilde, den Willy Brandt gekannt und gemocht hat. „Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keine Beachtung, denn sie lässt die Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird.“ Brandt sei, so Engholm, „ein Hoffender“ gewesen, der eine Welt erstrebte, in der die Menschen solidarisch miteinander verbunden sein können. Aber all das war gekoppelt mit Pragmatismus. Willy Brandt war kein weltfremder Visionär. „Wer eine Partei 25 Jahre leitet, muss auch machtbewusst sein“, betont Egon Bahr.
Auch dem Zweifler Brandt, über den immer wieder zu lesen ist, fügt Bahr eine weitere Facette hinzu: „Wenn er seine Zweifel überwunden hatte, dann war er nicht mehr zu bewegen. Dann stand er zu seiner Entscheidung.“ Bahr nennt die Ostpolitik, bei der Brandt schon als Regierender Bürgermeister von Berlin gelernt hatte: Weg bekommt man die Mauer nicht, aber vielleicht kann man sie wenigstens durchlässiger machen.
Ein begnadeter Motivator
„Kleine Schritte sind besser als große Worte“, zitiert Egon Bahr Willy Brandt und fügt noch eine Handlungsmaxime des Ex-Kanzlers und Nobelpreisträgers hinzu: „Die ganze Politik kann sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht den Menschen hilft.“ Dinge auf den Punkt bringen, mit treffenden Formulierungen überzeugen, das beherrschten Willy Brandt und sein Team perfekt.
Auch das hat sicher zu seinem Mythos beigetragen. Vor allem aber war es seine Persönlichkeit. „Er war ein begnadeter Motivator“, erinnert sich Björn Engholm und fügt hinzu. „Wir haben Willy Brandt verehrt, gelegentlich sogar geliebt.“ Welcher Politiker kann das schon von sich sagen.