Kultur

Wunderbare Wahrheit

von Dagmar Günther · 14. Mai 2008

Romane wie zum Beispiel "Die essbare Frau" fallen einem ein, wenn man den Namen der kanadischen Autorin Margaret Atwood hört. Romane mit einer stringenten Handlung, die einen schnell hineinziehen ins Geschehen und sich in einem Zuge lesen lassen.

In über 30 Ländern wird die in Toronto lebende Autorin geschätzt - ob der von ihr in feinsinniger Sprache erzählten Geschichten.

Auch dieses Buch kommt nachdenklich daher. Auch hier weiß das Publikum von Anfang an, um welche Personen es geht. Auch hier gerät Realität in verdichteter Form ins Blickfeld. Und doch will dieses Buch anders behandelt sein als all die anderen. Es widersetzt sich dem schnellen oder gar flüchtigen Lesen. Man nimmt es besser zu sich wie einen kostbaren Wein, der in kleinen Schlucken genossen sein will.

Die Handlung

Nell und Tig sind ein ideales Paar. Nur gibt es da auch noch Tigs Söhne aus erster Ehe. Vor allem aber gibt es Oona, Tigs Ex, die ihre Lektorin Nell zwar erst mit Tig verkuppelt hat, dies im Nachhinein jedoch bereut und sich permanent zu kurz gekommen fühlt. Nell versucht - fast über ihre Kräfte und über ihre finanziellen Mittel hinaus - auszugleichen. Sie ist die gute Seele. Außerdem ist sie einiges gewöhnt, denn auch für ihre wesentlich jüngere, psychisch labile Schwester hat sie stets Verantwortung übernehmen müssen.

Von ihren Eltern hat sich Nell mitunter überfordert gefühlt. Das erwünschte Verständnis für das Zusammenleben mit - dem schließlich mit einer anderen verheirateten - Tig findet sie bei ihnen auch nicht gleich. Doch das ändert sich schnell, als die Eltern wieder in großem Umfang Nells Hilfe brauchen.

Die "kleine" Schwester wird auf Schizophrenie (fehl)behandelt, begeht einen Selbstmordversuch, kommt nur mit Nells und Tigs und der durch diese neu gesuchten, völlig anders ausgerichteten psychiatrischen Unterstützung wieder auf die Beine. In dieser Zeit wird Nell selbst Mutter und bewirtschaftet gemeinsam mit Tig eine Farm. Sie muss sich mit dem Leben und Sterben von Tieren und der eigenen Rolle dabei auseinandersetzen.

Auch Nells Eltern gehen den Weg alles Seienden. Sie werden alt, die Sinne beginnen zu versagen. Diffuse Ängste, Protestgefühle gegenüber dem eigenen ungekannten körperlichen Zustand kommen auf. Jetzt benötigen sie in hohem Grade Nells Verständnis.

Alle miteinander finden sie Trost im anderen und darin, vergangene Geschichten so zu interpretieren, dass sie selbst darin eine wichtige Rolle gespielt haben und spielen.

Authentizität und Alltäglichkeit

Die einzelnen Kapitel der Geschichte sind zum Teil eigenständige Geschichten gewesen. Sie fußen auf wahren Begebenheiten, wie die Autorin am Schluss noch einmal betont. Man merkt ihnen das Authentische an. Der Text ordnet sich ein in einen neuen Trend des literarischen Suchens nach dem richtigen Umgang der Generationen miteinander.

Das Buch hält zur Langsamkeit an - weil es nicht einfach um Erdachtes geht, sondern um Kindheit, Jugend und Älterwerden, zwar bezogen auf ein Schicksal, aber doch aus wechselnden Perspektiven und mit einem gehörigen Grad an Verallgemeinerung.

Dorle Gelbhaar

Margaret Atwood "Moralische Unordnung", Deutsch von Malte Friedrich, Berlin Verlag 2008, 254 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-8270-0709-4

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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