Kultur

„Wir hatten die Wahl“ - Rezension

von Die Redaktion · 30. August 2005

Das Projekt scheint gewagt. "Wir wollten die Bundestagswahl nicht an uns vorbeiziehen lassen und mussten die Autoren deshalb in nur einer Woche zusammenbekommen", nennt Herausgeberin Gabriele Gillen den Grund für das schnelle Erscheinen des Buches. Es sei somit "aus einem Akt der Verzweiflung" entstanden. Eine Tatsache, die man jedoch keiner der 226 Seiten anmerkt. Kurzweilig lesen sich die sechs bis acht Seiten langen Beiträge so namhafter Kabarett-Größen wie Wiglaf Droste, Dieter Nuhr oder Dietmar Wischmeyer, die sehr verschiedene "Rückblicke" auf das "Jahr eins" nach der Wahl werfen.

So sucht der abgewählte Kanzler Schröder im Beitrag von Gabriele Gillen immer noch nach der passenden Rede, die ihm den Wiedereinzug ins Kanzleramt sichern soll. Philipp Schaller hingegen gewährt Einblicke in Angela Merkels Tagebuch. Er lässt den Leser teilhaben an ihrem ersten Tag als Kanzlerin, an dem sie gleich acht Atomkraftwerke eröffnet sowie dem zehnmillionsten Arbeitslosen einen Präsentkorb überreicht. Für all diejenigen, die das mit der Vertrauensfrage immer noch nicht verstanden haben, erklärt Heinrich Pachl schließlich, was "Vertrauen" eigentlich ist: "Der damals amtierende Kanzler stellte die Vertrauensfrage, indem er diejenigen, die ihm vertrauten, dazu bringen wollte, ihm das Vertrauen zu entziehen, aber nach eigener Aussage in keinster Weise darauf vertrauen konnte, dass ihm das Misstrauen auch ausgedrückt wurde, sondern im Gegenteil so wenig Vertrauen hatte, dass er glaubte, dass gerade die, die ihm nicht vertrauten, ihm in der Abstimmung das Vertrauen ausdrücken würden. Das heißt, nicht einmal denen, die ihm nicht vertrauten, konnte er vertrauen, dass sie ihm, wenn es nun wirklich um politische Vertrauen geht, dann auch tatsächlich misstrauten." Alles klar?

Nach all den Ratgebern, Analysen und Expertenmeinungen zur Bundestagswahl aus den vergangenen Wochen bietet Gillens Buch eine ganz andere Sicht auf die Dinge. Das ist erfrischend. Die Spaßgesellschaft ist vorbei und Guido (Westerwelle) tourt nicht mehr in seinem Mobil durch die Lande. Nun ist ernsthafte Satire angesagt, denn Lachen macht das Leben mit allen Merkels, Kirchhofs und Christiansens erträglicher.

Und was wäre gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht in letzter Minute die Neuwahlpläne gekippt hätte? Auch dafür hat Herausgeberin Gabriele Gillen eine Antwort parat. "Direkt nach der Vertrauensfrage des Kanzlers hatten wir nichts Greifbares: Kein Wahlprogramm und auch keine Entscheidung des Bundespräsidenten", meint sie augenzwinkernd. "Wenn es nun auch nicht zur Wahl gekommen wäre, hätten wir zumindest das ungewöhnlichste Buch zur Nichtwahl gehabt."



Gabriele Gillen (Hrsg.): Wir hatten die Wahl - Erste Rückblicke auf unsere neue Bundesregierung, Rowohlt-Verlag, August 2005, ISBN: 3-499-621-355, 6 Euro



Kai Doering

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