Kultur

Opfer und Henker

von Die Redaktion · 29. Juni 2007

Die erste Novelle beschäftigt sich mit dem altbekannten Stoff der Kain und Abel Geschichte. Kain erschlägt seinen Bruder und fordert im Gespräch mit Gott das Recht auf Selbstauslegung der göttlichen Vorschriften. Kertész erschafft mit seinem Kain eine mephistolische Figur.

Kain steigt zum erfolgreichen Geschäftsmann auf und freut sich daran, Gott ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Der Henker wendet sich ans Publikum

Die zweite Novelle entstand im Zuge der zahlreichen Veröffentlichungen von Texten von NS-Verbrechern, die schwülstig und penetrant um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlten.

Kertész' Henker wendet sich direkt an die Leser. Die würden sich nur deshalb gegen eine persönliche Auseinandersetzung mit ihm wehren, weil sie in ihrer gefühlten Sicherheit, niemals derartige Taten begehen zu können, nicht gestört werden möchten. Lange vor dem breit geführten Diskurs um Eichmann brachte Kertész hier die These von der "Banalität des Bösen" aufs Tapet.

Darauf folgt die dritte Novelle, eine Geschichte über das Leben während der stalinistischen Diktatur in Budapest. Sie handelt von einem Redakteur, der kalt gestellt wird. Bei voller Bezahlung verbringt er die Zeit sinnlos am Arbeitsplatz, wird von seinen Kollegen geschnitten.

Schließlich trifft er nachts beim Durchstreifen der Budapester Strassen auf einen Pianisten, der aus Angst vor Repressalien nicht mehr nach Hause geht. Der Protagonist erlebt somit die pervers anmutende Relativität seines Leids und seines Lebens.

Die Liebe zu zwei Städten - zwei Welten

Die abschließenden Zeitungsartikel beschäftigen sich zum einen mit Kertész' Verhältnis zu seiner Geburtsstadt Budapest und zum anderen mit seinem (Er-) Leben Berlins. Besonders der Text über Budapest, wo der Autor als Kind erfahren musste, als "Jude" wahrgenommen und deshalb gefährdet zu sein, beeindruckt. Das Gefühl der kindlich empfunden Liebe und Geborgenheit zu der Stadt wird erschüttert, der 16-jährige Überlebende des Holocaust kehrt zurück - trotz allem. Der 27-jährige Autor bleibt in der Stadt, obwohl sich die Diktatur gerade 1956 in all ihrer Grausamkeit bewiesen hatte. Er meint, nur dort schreiben, geistig überleben zu können. Und schließlich setzt der gealterte Autor sich mit dem freien Budapest nach 1989/1990 auseinander Da musste er nicht mehr gegen die Totalitarismen anschreiben, um seine Ausreise bangen. Und doch bleibt die Beziehung zu Budapest unverbrüchlich bestehen: im Negativen damals wie im Positiven der neuen Zeit.

Berlin wird sowohl während der Teilung als auch danach erlebt und wahrgenommen. Kertész stellt die Stadt als Wurzel eines regen Geisteslebens dar, das in andere "Weltstädte" ausstrahlte und nun mit seiner Geschichte lebt und weiterlebt.

Die Texte sind alle bereits veröffentlicht worden. Viele Gedanken erscheinen deshalb nicht neu. Aber die Zusammenstellung ist in ihrer Gesamtheit ergreifend und nie banal. Der schmale Band ist sehr empfehlenswert.

Er lässt sich wunderbar quer lesen. Doch dem, der einen Eindruck dieser Epoche und des Erlebten im Zuge von politischer Willkür, moralischem und philosophischem Diskurs bekommen will, sei eher lineares Lesen geraten.

Maxi Hönigschmid

Imre Kertész: Opfer und Henker. Transit Buchverlag; 87 Seiten; 14,80 €;

ISBN-10: 3887472209

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