Im zaristischen Russland verfolgt und von den Bolschewiki aus dem Land getrieben, lebte sie als Flüchtling in Deutschland, in Frankreich und schließlich in den USA. Dabei hat sie immer ihren
Blick "erwartungsvoll nach Russland gerichtet".
Das Buch schildert das Emigrantenleben einer aktiven Sozialdemokratin immer auf gepackten Koffern: In Russland bis 1922, in Deutschland bis 1932, in Frankreich bis 1940 und in den USA bis zu
ihrem Tod 1963. Die Themen, die sich mit dieser Biographie verbinden, sind der russisch-jüdische Aspekt, die sozialdemokratische Menschewiken-Bewegung und der Komplex der russischen Emigration.
Menschewiken und Bolschewiken
Die Menschewiken waren eine Bewegung, die für mehr Demokratie in Russland kämpfte. Sie gingen von einem Stufenmodell der historischen Entwicklung nach der Beseitigung des zaristischen Regimes
aus. Dabei wollten sie zunächst eine bürgerliche Demokratie in Verbindung mit einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung herstellen, aus der sich dann eine sozialistische Ordnung entwickeln
sollte. So unterstützten sie das liberale Bürgertum, die liberalen Adligen und insgesamt die radikale Intelligenz als potentielle Bündnispartner im vorrevolutionären Russland.
Die rivalisierenden Bolschewiken hingegen beharrten auf dem Standpunkt, dass das russische Bürgertum zu stark im Zarismus verankert sei und bauten im wesentlichen nur auf die arme
Bauernschaft. So wirft das Buch auch die Frage auf, warum die Menschewiken mit ihrer sozialdemokratischen Alternative zum Bolschewismus schon nach der Oktoberrevolution von 1917 gescheitert waren.
Lydia Cederbaum wurde des Landes verwiesen und ins Exil gezwungen. Sie ging nach Berlin, wo sie fast zehn Jahre lebte. Hier war die Situation für russische Emigranten weit komfortabler als in
den späteren Orten des Exils. Eine nachhaltige Rolle spielte hierbei die russische Kultur im kulturell lebendigen Berlin.
Hindernislauf in die USA
Cederbaum ist sowohl den stalinistischen Säuberungen als auch der Nazidiktatur in Deutschland entkommen. Von Russland nach Deutschland, dann nach Frankreich und schließlich in die USA, das
war für die geistreiche und engagierte Frau auch ein bürokratischer Hindernislauf. Ihr Leben für die Demokratie ging 1963 in New York zu Ende. Mit ihrem Tod endete auch die Ära der Menschewiken.
Bei einer Buchvorstellung in der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg bezeichnete die Autorin das Leben Cederbaums aus heutiger Sicht "als ein positives Beispiel einer kosmopolitischen
Existenz". Zu unterstrei¬chen ist der große Aufwand Jebraks: Sie hat viele prominente Exilrussen für ihre Untersuchung interviewt. Aufwendige Archivrecherchen in New York und Stanford, in Wien, in
Amsterdam, in Moskau und in St. Petersburg zeugen von einer langjährigen und langwierigen Quellenarbeit.
Diese wissenschaftlich fundierte Biographie mit einem eindrucksvollen Literatur-verzeichnis und Personenregister durchleuchtet die historisch-politischen, religiösen und institutionellen
Strukturen der russischen Gemeinschaft in der Emigration. Trotz der ausgesprochenen Informationsdichte bleibt sie leicht lesbar. Sie lässt Menschen wie Lydia Cederbaum, die ihrer Überzeugung wegen
ihr Land verlassen mussten, nicht in Vergessenheit geraten. Bleibt zu hoffen, dass das heutige Russland sich dieser Vorläufer einer Demokratie gebührend erinnert und ihr Vermächtnis in praktisches
Handeln aufnimmt.
Ulrich Graf
Svetlana Jebrak: Mit dem Blick nach Russland. Lydia Cederbaum (1878-1963)
Eine jüdische Sozialdemokratin im lebenslangen Exil, Bonn, Dietz-Verlag, 2006, 350 Seiten, 34 Euro, ISBN 3801241653
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