Wolfgang Thierse sprach Johano Strasser seinen tief empfundenen Dank dafür aus, dass die SPD einen solch unabhängigen Denker in ihren Reihen weiß. Die SPD verdanke Strasser seit 40 Jahren
wertvolle Kritik und Denkanstösse, er sei nie intellektuellen Trends hinterher gelaufen, habe sich nicht von diesen Irrungen und Wirrungen frei machen müssen. Vielmehr nehme Strasser seit Jahren
- sei es nun durch seine Arbeit in der Grundwertekommission der SPD, der er bereits seit 1975 angehört - oder durch seine spannenden Analysen zum Zeitgeschehen, eine Vorbildfunktion für andere
ein. Besorgt zeigte sich Thierse hinsichtlich der fehlenden Nachfolger Strassers - wo blieben die jungen Intellektuellen? Wo bleibt das politische Engagement? Bewahrheite sich der "Trend zur
Standpunktlosigkeit"?
Politisches Engagement fern der intellektuellen Trends
Umso wichtiger sei die Vermittlung der Erfahrungen des Älteren, das "leidenschaftliche Plädoyer für ein politisches Leben", das Strasser mit seinem neuesten Buch abgeliefert habe, sei auch
gerade deshalb als Ermunterung des "Nicht-Nachlassens", des "Nicht-den-Kopf-in-den-Sand-stecken" zu lesen. Man sehe gerade an der Vita von Johano Strasser, wie lohnend es sei, sich einzumischen,
ja gerade heute einen Weg zu finden, der fern der vermeintlichen Alternativlosigkeit der ökonomischen Anpassung liegt ohne dabei von "neuer Bürgerlichkeit" schwadronieren zu müssen. Strasser habe
immer für ein Ideal der SPD gestanden, für die unbedingte Vereinigung von Politik, Literatur, Kultur, Liebe und Freundschaft - reduziere man sich auf die Politik, würde das Leben selbst doch nur
allzu rasch verkümmern. Thierse lobte die gute Lesbarkeit des Buches, die Darstellung der Gedankenwelt des Elternhauses Strassers, die ihn so sehr prägte und den weiten Bogen an Zeitgeschichte,
den Strasser mit seinen Erinnerungen schlägt. Es ist sowohl von den "68ern", dem Wandel der SPD, der Arbeit der literarischen Zeitschrift "L80", die vor allem für DDR - Schriftsteller wichtig
wurde, als auch von den persönlichen Begegnungen mit Heinrich Böll, Günther Grass usw. die Rede.
Das prägende Elternhaus des Freidenkers
Strasser las anschließend einige Passagen aus seinem Buch vor, die Schilderungen des Elternhauses mit seinem ausgeprägten Pazifismus und selbstständigem Denken sowie das für Autobiografien
ja sehr ungewöhnliche Kapitel mit der Überschrift "Landschaft meiner Kindheit", zeugen von einer wunderbaren poetischen Sprache und der intensiven Auseinandersetzung des Autors mit diesen Themen.
Natürlich wurden auch Passagen aus dem politischen Leben vorgelesen, deren Ehrlichkeit - da sie partiell keinesfalls als "Ruhmesblatt" für Strasser gewertet werden können - überrascht.
Zum Abschluss hatte Wolfgang Thierse in Bezug auf das Buch noch einige Fragen an Strasser vorbereitet:
Thierse: Die SPD der 1960-/1970er Jahre galt als nicht vorbereitet auf den Ansturm der jungen Menschen der 68er mit ihren Erwartungen und Forderungen. Die SPD wandelte sich von der
"Kleinen-Leute-Partei", was von vielen als Verlust gewertet wurde. Wie siehst Du die Rolle der 68er in der SPD?
Strasser: Nein, durch die 68er hat die SPD auch viel gewonnen. Bis dato gab es zum Beispiel bei Parteitagen keine Gegenkandidaten, weil die Parteistrukturen generell eher als
vordemokratisch zu werten waren. Die 68er sorgten für eine geistige Auffrischung bei den Genossen, sie brachten Diskussionen und schufen eine reale Demokratie. Die Diskussionsfreudigkeit ist
heutzutage leider am Einschlafen, dazu braucht man sich nur mal die letzten SPD-Bundesparteitage anzusehen. Mehrheitsentscheidungen, die nicht in langen, ausführlichen Diskussionen zustande
gekommen sind, haben einfach keinen Bestand, die Menschen fühlen sich nicht wirklich an sie gebunden.
Thierse: Herr Poffala von der CDU merkte neulich an, man müsse im Hinblick auf eine deutsche Leitkultur, die Fehlentwicklungen in der deutschen Gesellschaft durch die 68er
rückgängig machen. Wie siehst Du das mit den "Fehlentwicklungen" der 68er?
Strasser: Natürlich hat es Fehlentwicklungen gegeben, zum Beispiel dieser fürchterliche Dogmatismus mit dem man dann geradezu verschwenderisch in die Diskussionen ging, aber der
Grundgedanke, die Grundwerte waren doch wichtig für die Gesellschaft. Das sollte man nicht vergessen und vor allem nicht die ganze 68er-Bewegungüber einen Kamm scheren, das waren doch zumeist
Reform orientierte Real-Demokraten.
Thierse: Was mich als ehemaligen DDR-Bürger natürlich besonders interessierte, ist das Verhältnis der SPD zu den DDR-Oppositionellen. Es gab da den Mythos, man habe diese dann im
Zuge der Entspannungspolitik im Stich gelassen?
Strasser: Die Entspannungspolitik war auch im Sinne der DDR-Bürger, man musste verhandeln, da halfen doch keine Sprüche an die jeweilige Gegenseite. Leuten wie Egon Bahr heute
vorzuwerfen, im geheimen eine Sympathie für das System der DDR empfunden zu haben, ist eine schier unglaubliche Unverschämtheit. Vielleicht hätte man für einzelne Dissidenten mehr tun können, ja
diese Diskussion gab es, aber was wirklich wichtig war, war die beiden Gesellschaften zur Diskussion zu bringen - auch miteinander. Die SPD hatte leider nicht rechtzeitig erkannt, wie erfolgreich
diese Politik schon zu Beginn der 1980er Jahre war. Denn dann hätte man den Kontakt zu einzelnen Oppositionellen stärken können - nur sollte man aus der heutigen Sicht, nicht die Risiken eines
solchen Verhaltens vergessen. Wir haben vielen mit der Arbeit bei L80 geholfen, das nun einige derer nicht mehr davon wissen wollen, verletzt mich.
Thierse: Hast Du zum Schreiben dieses Buches Notizen gebraucht oder kam das alles frei aus dem Gedächtnis?
Strasser: Nun, ich führe seit den 1950er Jahren ein philosophisches Tagebuch und habe seit Anfang der 1960er Jahre alle Terminkalender aufbewahrt, mit der Rückbesinnung kam auch
viel Klarheit in längst vergessene Begebenheiten und Dialoge.
Thierse: Zu Deinem Kapitel "Wendezeiten". Es heißt ja immer, die Linke sei auf dem falschen Fuß erwischt worden und habe alles Mögliche an politischem Handeln verpasst. Ist da
was Wahres dran?
Strasser: Das mag für manche stimmen. Für mich brach da ein konservatives Alt-Herren-Regime zusammen, das nur sehr wenig mit dem Sozialismus zu tun hatte, als das ich ihn
verstand. Meiner Meinung nach hätte man bei der Abwicklung dieses Staates und bei der Vereinigung einiges anders machen müssen. Die anhaltende Entfremdung zwischen den Menschen hätte zum Beispiel
dadurch verhindert werden können, dass man die Ostdeutschen als ebenbürtig behandelt hätte. Leider war ich am 9.11. auf dem Weg nach München, statt in Berlin zu bleiben, diese Nacht in Berlin
habe ich also nur aus der Ferne miterleben können.
Interessanterweise brachen einige Linke im Zuge der Wende einfach weg, die Gemäßigten blieben links, aber die radikalen Linken wechselten schnell zur radikalen Rechten. Für diese Leute
scheint eine Politik der Problemlösung unter ihrem Niveau zu sein, für die muss Politik immer radikal, zugespitzt und somit realitätsfern sein.
"Politisches Engagement gehört zu einem vollständigen und erfüllten Leben"
Daran folgten noch ein paar Fragen zur heutigen SPD und deren Nachwuchsproblemen. Strasser appellierte an die jungen Menschen, sich mehr zu engagieren, statt sich nur zu beschweren. Man
müsse mitgestalten, statt nicht zur Wahl zu gehen und alles für alternativlos zu halten. Gerade die Gestaltung der Probleme von Europa und dem Klimawandel seien doch die Themen, von denen die
Jungen am meisten betroffen sein werden. Warum also gelingt es Niemandem, junge Menschen an die aktive Politikgestaltung heranzuführen?
Darauf gab es keine klare Antwort, aber das Buch ist auf jeden Fall als Ermunterung und Aufforderung zu einem "politischen Leben" zu lesen - und allein deshalb schon zu empfehlen.
Johano Strasser: Als wir noch Götter waren im Mai. Erinnerungen; Pendo Verlag; 352 Seiten, ISBN- 10: 3866121113; 19,90 €
Maxi Hönigschmid
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