Kultur

Und jeder war Annes Freund

von Dagmar Günther · 5. Januar 2007

Lange schwieg Jaqueline van Maarsen, Anne Franks beste Freundin. Doch als auch Annes Vater solchen Schwindel duldet, kann sie nicht mehr an sich halten. Sie muss die Sache richtig stellen - auch und vor allem um Annes willen.

Es ist schon eigenartig. Wenn es irgendwo Ruhm und Anerkennung zu gewinnen oder gar etwas zu erben gibt, tauchen aus dem Nichts "Beteiligte" auf, die auf ihren Anteil pochen. Je mehr zu unrecht, desto lauter. Das wird Jaqueline van Maarsen schmerzhaft bewusst, als ihre Tante stirbt, die letzte Bewohnerin ihres Elternhauses, das genau genommen ihrer Mutter gehörte.

Einfühlsame Beschreibung

Aber die Querelen um das materielle Erbe - dieses Hauses eben - sind nichts gegen das, was sie im Zusammenhang mit dem geistigen Erbe ihrer besten Freundin Anne Frank erlebt.

Einfühlsam beschreibt Jaqueline van Maarsen, wie sie an sich und ihrer Sicht auf die Vergangenheit zweifelt, als plötzlich immer mehr "Freunde" und "Wegbegleiterinnen" Annes auftauchen. Wie sie schier zu verzweifeln droht, als jede und jeder von Annes Berühmtheit profitieren will, als sogar Filmdokumente gefälscht werden.

Sie zögert lange, sich als Anne Franks beste Freundin überhaupt zu erkennen zu geben. Denn sie will nicht in deren Schatten segeln. Sie will ihr eigenes Leben aufbauen.

Mythos Anne

Für Otto Frank ist sie längst ein wichtiger Bezugspunkt geworden. Er weiß aus Annes Tagesbüchern um die tiefe beste Freundschaft der beiden Mädchen. Bewusst entzieht sich Jaqueline dem wachsenden Mythos um Anne. Die Tochter eines holländischen Juden und einer französischen Katholikin findet ihren eigenen Weg. Sie lernt Buchbinderin, heiratet, gründet eine Familie. Natürlich verfolgt sie aufmerksam Annes steigende Popularität.

Sie wird hellhörig als selbst die Anne Frank Stiftung immer neue Freunde Annes präsentiert. Sie ist empört, als Eva Schloss-Geiringer - die Tochter der zweiten Frau Otto Franks - die Anne nie kennen gelernt hat, sich aber als Spielkameradin ausgibt, die Ausstellung "Die Welt der Anne Frank" in London eröffnen darf. Schließlich mischt Jaqueline van Maarsen sich doch noch ein und verbreitet endlich die Wahrheit über Anne: in Vorträgen an Schulen, an Universitäten, in Sendungen in Funk und Fernsehen, überall auf der Welt.

Und so vermischen sich in ihrem Buch die verratene und somit verlorene gegangene Haus-Erbschaft mit der ererbten Jugend-Freundschaft zu Anne Frank, die Jaqueline van Maarsen niemals verlieren noch verraten würde.

Der bewegender Bericht ihrer erfolgreichen Emanzipation von der Vergangenheit ist zugleich ein wichtiges Dokument für alle, denen am wahren Leben und den wirklichen Freundschaften der Anne Frank gelegen ist.

Dagmar Günther

Jaqueline van Maarsen: Die Erbschaft, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2006, 200 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-10-048823-7

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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