Umfang und Ausmaß der Wirtschafts- und Finanzkrise lassen sich noch nicht erahnen, erste Folgen jedoch bereits bilanzieren. Spitzenpolitiker aus CDU und CSU scheint das nicht weiter zu irritieren. Trotz milliardenschwerer Steuerausfälle bleiben sie sich in ihrer altbekannten Forderung nach Steuersenkungen treu. Und ihr Wirtschaftsminister forderte in dieser Woche schon mal vorab, dass sich der Staat nach Ende der Krise wieder aus dem Marktgeschehen zurückziehen soll. Das Engagement des Staates zur Stabilisierung des Finanzmarktes dürfe nicht dazu führen, dass die Marktkräfte sich überhaupt nicht mehr entfalten könnten, gab er zu Bedenken.
Keine "stinknormale Krise"
Diese Aussagen machen deutlich, dass es in Deutschland Kräfte gibt, die so schnell wie möglich zurück wollen. Bleibt nur die Frage, wohin? Zum System des neoliberalen Marktradikalismus?
Andere Kräfte in diesem Land möchten das zu Recht verhindern. Zum Beispiel der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Dessen Chef Michael Sommer eröffnete am Donnerstag einen zweitägigen
"Kapitalismuskongress" in Berlin. Wissenschaftler und Experten diskutieren hier mit ca. 500 Teilnehmenden über Kapitalismus und über die Krise. Denn die ist laut DGB-Chef Sommer, "eben keine
stinknormale Krise, wie sie dem kapitalistischen Wirtschaftssystem nun einmal immanent ist". Dem ungebremsten Marktradikalismus bescheinigte Sommer nicht nur ein Versagen in moralischer, sondern
auch in ökonomischer Hinsicht. Deshalb sagte der Vorsitzende einer Politik, die diesen ungebremsten Marktradikalismus ermöglicht hat, den Kampf an. "Wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass
die Verursacher der Krise nach einer kurzen Überwinterungsphase weitermachen können wie früher", warnte er. Es müsse alles getan werden, um die Krisenfolgen für die Menschen soweit es geht
abzumildern: "Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sie jetzt auch nicht dafür büßen müssen."
Wer die Krise verursacht hat, muss auch zahlen
"Jahrelang haben wir allen klar gemacht, wogegen wir sind, jetzt müssen wir klar machen, wofür wir sind: Welches Finanzsystem wollen wir? Welche Art des Kapitalismus wollen wir?" Diese Fragen
stellte der Ex-Investmentbanker Sony Kapoor, früher für Lehman Brothers tätig, heute Geschäftsführer des norwegischen "
Re-Define", einem international tätigen Think-Tank, der sich für eine Regulierung des Finanzsystems einsetzt. In seinem Inputreferat sprach sich Kapoor für ein
System aus, dass Wettbewerbsfähigkeit und nicht wie bisher Großunternehmen und Banken fördert. "Dieses System ist nicht nachhaltig", so Kapoor, "Gewinnvorgaben von 25 Prozent sind unrealistisch
und können nur auf einer Blase basieren." Wenig nachhaltig arbeiten auch Banken, die zu Versicherungen werden. Kapoors Forderungen daraus: Mehr Diversität. Außerdem müssen die Dinge einfacher
gestaltet werden. Und neben Rechenschaftspflichten müsse es einen Lastenausgleich geben: "Die Verursacher der Krise müssen zahlen."
Claudia Kemfert, Energie- und Umweltexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, kennt diese Debatte aus der Energie- und Klimapolitik und sprach gleich von drei großen Krisen:
Von der Wirtschafts-, der Energie- und der Klimakrise: Wirtschafts- und Energiekrise könnten sich dabei in Kürze gegenseitig hochschaukeln, sagte sie. Auch in der Energie- und Klimapolitik bedarf
es mehr Wettbewerb, nachhaltiges Wirtschaften müsse gefördert werden. Neben Politik und Wirtschaft müssten auch die Verbraucherinnen und Verbraucher an einem grundlegenden Wandel mitarbeiten.
Dazu gebe es nun eine Chance, ist sie optimistisch.
Umdenken oder weiter so?
Auch Heide Pfarr, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der
Hans Böckler-Stiftung, kann der Krise etwas Positives abgewinnen. Jahrelang habe die Böckler-Stiftung die ausufernde Deregulierung kritisiert. "Nicht nur die
Deregulierung der Finanzmärkte, auch die Deregulierung der Arbeitsmärkte und die Entsolidarisierung der Sozialsysteme seien Thema gewesen", sagte sie. Die Krise bewirke ein Umdenken und somit die
Möglichkeit für Reformen.
Christoph Scherrer, Professor für Globalisierung und Politik an der Universität Kassel, zeigte sich skeptischer. Der Neoliberalismus sei kein Programm des wirtschaftlichen Wachstums
gewesen, sondern vor allem ein politisches Programm der Umverteilung von unten nach oben. Er könne auch ohne wirtschaftliche Erfolge überleben, so Scherrer. Nach 20 Jahren "kollektiver
Gehirnwäsche" säßen die Verfechter dieser Ideologie in führenden Positionen in Medien, Wissenschaft und Politik.
Ein kleiner, wenn auch nur vorübergehender Aufschwung, könne schon reichen, dass die derzeitige kritische Diskussion wieder verebbt, stimmte der Chefökonom der UN-Organisation für
Welthandel und Entwicklung (UNCTAD), Heiner Flassbeck, zu.
"Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt"
Und Moderator Harald Schumann, Journalist beim Berliner "Tagesspiegel" stellte fest, dass die derzeitige Forderung nach einem politischen Primat über die Wirtschaft seiner Meinung nach im
Gegensatz zum realen Geschehen stehe. Er habe den Eindruck, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben, "sich gerade den Zugriff auf die Steuereinnahmen der nächsten Generation sicherten",
warf er ein.
Tatsächlich sei es möglich, dass das Zeitfenster zur kritischen Betrachtung der Krise nicht reicht, die Chance auf gesellschaftliche Veränderung für mehr soziale Gerechtigkeit zu nutzen.
Deshalb seien Veranstaltungen wie diese so wichtig, ist Sony Kapoor überzeugt. Er setzt große Hoffnungen auf Deutschland. Die Veränderungen werden nicht von den USA ausgehen und schon gar nicht
aus seinem Heimatland Großbritannien, sagte er. Aber Deutschland habe in diesem Jahr die Möglichkeit, ein Umdenken in der Politik zu wählen.
Informationen zum Kongress:
Der Kapitalismuskongres des DGB findet statt vom 14. bis 15. Mai in Berlin. Informationen und Livestream finden Sie unter
http://www.kapitalismuskongress.dgb.de/index_html
Demonstration "Die Krise bekämpfen":
Für Samstag, den 16. Mai, ruft der DGB zu eine r Demonstration in Berlin auf. Die Demonstration ist Teil der Aktionstage des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) vom 14. bis 16. Mai. Unter dem Motto "Die Krise bekämpfen", wird auch in Brüssel, Prag und Madrid demonstriert: Für ein soziales Europa, das Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung aktiv bekämpft und für eine strenge Regulierung der Finanzmärkte. Mehr Informationen unter http://www.dgb.de/termine/termindb/termin_single?termid=2664
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.