Wenn ein Autor für sein Buch den George-Orwell-Preis erhält, spannt das Erwartungen hoch. In diesem Jahr wurde Raja Shehadeh für die englischsprachige Ausgabe seiner "Streifzüge durch
Palästina" dieser Preis verliehen. In seinem Buch geht es um das politisch bedingte Verschwinden einer Landschaft. Von außen hatte diese selten Anerkennung erfahren, galt als trostlos und öde.
Wer aber darin groß wurde - wie der Autor selbst, der schätzt die sanften Hügel und die Olivenhaine, die der Natur in endlos langen Jahren abgerungen wurden.
Nicht "1984", aber ein unheimliches Heute
Verschwindet in Orwells "1984" das Individuelle unter dem Druck der großen Systeme, so ist es in diesem Buch die Landschaft selbst, die darunter zerstört zu werden droht.
Shehadeh ist 1951 in Ramallah geboren worden, studierte Jura in England, absolvierte die amerikanische Universität in Beirut. Er arbeitet als Anwalt in Ramallah, ist Mitglied
internationaler Juristenorganisationen und hat eine unabhängige Menschenrechtsorganisation mitbegründet. Außerdem verfasste er eine Reihe in Arabisch und Englisch erschienener Bücher. Was er
schreibt, hat mit dem Versuch zu tun, den Menschen seiner Heimat zu helfen, den er auch als Anwalt in die Tat umzusetzen bestrebt ist. Um das Land geht es, das sie bearbeitet haben und weiter
bearbeiten wollen. Sie streiten um das Recht an ihrem Eigentum. Der Autor weiß um die formaljuristischen Schwierigkeiten dieses Streits und er kennt die Standpunkte der beiden streitenden Seiten.
Er versteht sogar beide Seiten.
Verlust der Heimat
Was er anprangert, ist der Verlust der Heimat bei den daraus Vertriebenen, wie auch bei den Gebliebenen, da diese ihr Gesicht verliert. Die weithin sichtbare sanfte Hügellandschaft
verschwindet unter den Häuseransammlungen der israelischen Siedler auf den Kuppen und hinter einer einengenden Grenz-Mauer. So ist Shehadehs Wandern zwischen den Hügeln Selbstbesinnung, Suche
nach den Wurzeln und Bestandsaufnahme des Heutigen. Kritisch sichtet er auch die Traditionen der eigenen Familie. Er bedauert, dass die westlich geprägte Elite sich über die eigene Verwandtschaft
erhebt, die handwerklich und bäuerlich hart arbeitete. Sein Onkel war Steinmetz. Shehadeh findet ein verlassenes Haus, das dieser zusammen mit seiner Frau aus Steinen errichtet hat. Darin
entdeckt er einen vom Onkel gefertigten steinernen Sessel: einen "Thron", der den eigenen Körpermaßen angepasst zu sein scheint. Onkel und Neffe gleichen einander äußerlich.
Die Sarha
Es ist keine Pilgerreise und auch sonst keine Wanderung zu einem konkreten Ziel, auf die der palästinensische Schriftsteller sich begibt. Vielmehr belebt er eine alte palästinensische
Tradition: die Sarha. Das ist eine Wanderung, die nur ein Ziel hat: ins Freie zu gehen und seine innere Freiheit, sein Inneres Ich zu finden. Eine Meditation der besonderen Art. Auf der Sarha
streift Shehadeh durch die Natur und erfährt sein Einssein mit dieser, ihr Gewordensein als das seinige.
Lüge und Wahrheit
Am Ende wird der Autor einem jungen Israeli begegnen. Der reklamiert wie er Ramallah als seine Heimat. Schließlich ist er ebenso dort aufgewachsen, und er hat nicht erlebt, dass Menschen
vertrieben wurden, damit seine Familie hier siedeln konnte.
Der Autor macht ihm dies nicht zum Vorwurf. Wie sollte er?
Sie gehören beide hierher.
Aber wie damit umgehen?
Raja Shehadeh "Streifzüge durch Palästina. Notizen zu einer verschwindenden Landschaft", Aus dem Englischen von Jürgen Heiser, Promedia Druck- & Verlagsgesellschaft m.b.H. Wien 2008,
184 Seiten, 17,90 Euro, ISBN 978-3-85371-287-0
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.