Wo 1989 alles wie ein Märchen begann, hat sich heute vielerorts Katerstimmung breit gemacht. Diese zu ergründen, ist Jürgs durch Deutschland gereist. Er ließ sich vom Umbruch erzählen.
Getroffen hat er sie alle: "fröhliche Gewinner und traurige Verlierer, wachsame Träumer und verbohrte Ewiggestrige, eingebildete Profiteure und gebildete Patrioten". Entstanden ist kein typisches
Geschichtsbuch, sondern ein "Buch voller Geschichten über Menschen", erläutert der Autor.
Unblutige Revolution
"Deutschland West hat die Revolution gespannt beobachtet, Deutschland Ost hast sie mutig gewagt", schreibt Jürgs. Frech reklamierte der Westen den Sieg allerdings für sich - und zu viele
Ostler akzeptierten das, analysiert er. Selbst der Tag der Deutschen Einheit ist - wie häufig diskutiert - nicht der des Mauerfalls, sondern jener der amtlich vollzogenen Einheit.
Auch Egon Bahr unterstreicht in dem Buch, dass es "nicht gelungen ist, die Menschen im Osten mit ihrem Stolz darauf, die erste unblutige deutsche Revolution geschafft zu haben, ins gesamte
Deutschland einzubringen und zu würdigen."
Michael Jürgs führte zahlreiche Gesprächen darüber, was das Land trennt und was es eint. Was der Umbruch für Einzelne bedeutete und immer noch bedeutet. "Gebrochene Figuren, die sich nach
der Niederlage kurz schüttelten und stur zum zweiten Anlauf antraten, sind im Osten zahlreicher zu finden als im Westen", zieht der Journalist die Bilanz seiner Deutschlandreise.
Schlau und doof
Was bleibt zu wünschen für die Zukunft? Lothar de Maizière ist "zufrieden, wenn überall in Deutschland Professoren ihre Studenten nicht mehr nach Ost und West unterscheiden, sondern nach
schlau und doof."
Und die Prognose? Das Zusammenwachsen werde länger dauern als gedacht, schreibt Jürgs. Denn zwanzig Jahre nach dem Mauerfall sei es noch lange nicht vollendet. Erst wenn die "wahren Kinder
der Einheit", jene die 1989 im Kleinkindalter waren, "die Gemütslage der Nation bestimmen, werden die real existierenden Unterschiede zwischen Ost und West so real existieren wie die zwischen
Nord und Süd. Es gibt sie. Na und", schreibt er.
Michael Jürgs erzählt Geschichten von Erfolg und Scheitern. Er schreibt über Rechtsradikalismus und Arbeitslosigkeit, über Stasi-Akten und die Aufarbeitung der Nationalsozialistischen
Vergangenheit. In seiner Dichte und Vielschichtigkeit ist dieses Reisebuch als Lektüre für das bevorstehende 20-jährige Jubiläum der Deutschen Einheit zu empfehlen.
Michael Jürgs: "Wie geht's Deutschland? Populisten. Profiteure. Patrioten. Eine Bilanz der Einheit.", C. Bertelsmann Verlag, München, 2008, 367 Seiten, 19,95 Euro,
ISBN-987-3-570-00998-7
Goetz Schleser
ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.