Dass Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, in der Öffentlichkeit nicht unbedingt populär sind, ist kein Geheimnis. "Wenn ein Bauer vor fünfzig Jahren überlegte, welchen Traktorreifen er verwendet, bekam er die Entscheidung aus seinem nächsten Umfeld, vom Zulassungsamt oder dem Landrat, von Leuten, die er kannte. Heute bestimmt irgendjemand in Brüssel über diesen Traktorreifen. Über seine Größe, seine Breite, über das Gewicht des Traktors. … Der Wert der europäischen Entscheidungen wird in den jeweiligen nationalen Diskussionsräumen kaum vertreten. Brüssel wird zu gern als Blitzableiter benutzt" erklärt beispielsweise Gottfried Langenstein, Präsident des deutsch-französischen Kultursenders ARTE, dieses Phänomen. Er ist einer der Gesprächspartner von Alexander Graf Lambsdorff und Karin Resetarits. Im Interview betont er, welchen Wert ein Europa ohne Grenzen für die europäische Bevölkerung hat.
Hunger auf Kultur
Diesen Wert heben alle Gesprächspartner auf ganz unterschiedliche Weise hervor. Sie wählen einen sehr persönlichen Aspekt als Aufhänger und entwickeln daraus ihre Vorstellungen von den positiven Seiten eines vereinten Europas. Diese Gesichtspunkte, die bei vielen Gesprächspartnern auch autobiographisch begründet sind, machen die Interviews spannend und schaffen ein sehr differenziertes Bild von Europa, für das einerseits die Freiheit, andererseits aber auch Grenzen und Abgrenzungen eine zentrale Bedeutung haben.
Anders als die befragten Politiker, wie beispielsweise Friedrich Merz oder Hans-Dietrich Genscher, die vor allem wirtschaftliche oder politische Aspekte hervorheben, konzentriert sich die Autorin Juli Zeh auf die europäische Kultur und unterstreicht deren Bedeutung in den Balkanländern nach dem Krieg: "In unserer sehr saturierten Gesellschaft ist doch Kultur zu etwas geworden, das man immer fördern muss und das auch meist ein bisschen anstrengend ist. (…) Aber dort wird Kultur auf einmal ein existentielles Anliegen, da geht es nicht darum, ob es gut wäre, mal wieder ein Buch zu lesen, sondern man hat darauf auf einmal mindestens so viel Hunger wie auf etwas zu essen."
Die in Istanbul geborene deutsch-türkische Frauenrechtlerin Seyran Ateş spricht unter anderem über den EU-Beitritt der Türkei. Sie betont, dass die Europäer Stolz auf das Erreichte sein dürfen: "Nicht nur ich sage, dass die Europäer und Europa insgesamt viel selbstbewusster mit ihren Errungenschaften umgehen sollten und mit erhobenem Haupt eigentlich auch Forderungen stellen dürften."
Reichtum an Freiheit
Die sehr unterschiedlichen Gesprächspartner, die in ihren verschiedenen Funktionen befragt werden, ermöglichen den Herausgebern diverse Blickwinkel und bringen Ungewöhnliches zutage. In den lockeren Gesprächen entstehen interessante Sichtweisen auf und aus Europa. Formal verbindet lediglich die Frage nach dem persönlichen Verständnis von Liberalität die Interviews. Dahinter steckt für alle Befragten vor allem eines: Freiheit. Denn was bei aller berechtigten Kritik nicht vergessen werden darf: Viele Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses bedeuten Reichtum für Europa, der nicht in Geld, sondern in Freiheit zu messen ist.
Die Fotografin Sabine Schründer illustriert die Gespräche mit Fotos von verlassenen europäischen Grenzstationen. Die Bilder zeigen ganz praktische Entwicklungen eines vereinten Europas: Reisefreiheit, Bewegungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit.
Alexander Graf Lambsdorff / Karin Resetarits: Grenzgänge - Reden über Europa, Aufbau Verlag, Berlin 2009,160 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3351027049