Er verfolgte die Entwicklung der Philosophie. Stimmte der Lehre Kants zu. Den Maximen der Aufklärung entsprechend sah er sich in der Pflicht, ein einfaches, dem Volk verbundenes Leben zu
führen. Sein Haus war für alle offen, die mit ihm über Gott und die Welt disputieren wollten, sein Einfluss groß. Lew Tolstoi suchte das einfache Leben.
Die Ehefrau, mit der er 48 Jahre in Jasnaja Poljana zusammenlebte und die ihm 13 Kinder geboren hatte, verteidigte das Gewohnte, wohingegen seine Jünger von ihm eine konsequente Umsetzung
seiner Lehre erwarteten. Dazu gehörte auch, dass das Werk dem Volk gehören sollte. Nicht die Ehefrau und Verlegerin sollte das Erbe angetreten.
Die Jünger und die Ehefrau
Alexander Goldenweiser zählte ganz offenbar zu den Jüngern. Parteiisch zeichnete er den Konflikt der Eheleute Tolstoi, beleuchtete die Ehefrau und deren dem greisen Autor Kraft raubende
psychische Krisen kritisch.
Die dem materiellen Lebenserhalt der Familie verpflichtete Sofja Andrejewna war ebenfalls hochgebildet und vital. Es ist das Verdienst Margit Bräuers, der Schreiberin des Vorworts, dass sie
aus heutiger Sicht ergänzt, was Sofja Andrejewna ihrem Gefährten über die Jahre hin tatsächlich bedeutete. Diese hatte die Führung des Haushalts ebenso wie die verlegerisch-materielle Verwertung
der literarischen Arbeit Tolstois zu realisieren, war ihm Lektorin, Kopistin (eine sehr aufwändige, mühevolle Arbeit), Muse Partnerin im geistigen Austausch und Verlegerin. Zudem war sie 16 mal
schwanger, gebar 13 Kinder. Kein Wunder, dass sie es kritisch sah, als ihr das literarische Erbe entzogen werden sollte und dass sie dagegen ankämpfte.
Dem Buch vorangestellt ist also aus Gründen der Gerechtigkeit das Erzählen über das Leben Sofja Andrejewnas, die mit 18 Jahren aus dem geselligen Elternhaus in das Landleben Jasnaja
Poljanas verpflanzt wurde. Der Leser wird mitten hineingeführt in Konfliktlagen, wie er sie kennt. Die tägliche Balance zwischen dem eigenen Anspruch und dem der Familie. Und doch geht es im
Buch um viel mehr.
Politischer Denker
Gewohntes nicht einfach hinzunehmen, alles auf seine moralische Berechtigung hin zu überprüfen, hielt der große Romancier Tolstoi für notwendig. Er fühlte sich im Kantschen Sinne zu
permanenter "sittlicher Arbeit" verpflichtet und mischte sich ein, wo er Ungerechtigkeit sah. Und davon gab es genug im zaristischen Russland. So empörte es den Autor auch festzustellen, wie sein
Name missbraucht wurde, als seine Grußadresse an den Schriftstellerkongress nur zur Hälfte verlesen wurde. Die Kritik an der Zensurpolitik der Regierung, von der der Kongress erst genehmigt
werden musste, war einfach unterschlagen worden. Das fand Tolstoi schändlich. Der Zensur wollte er nicht nachgeben. Wie Puschkin fand er, man wäre selbst sein höchster Richter. Wenn man im
Einklang mit seinem Gewissen zu handeln beschlossen habe, dürfe man nicht über die Konsequenzen dieses Handelns nachdenken. Selbst in Hinblick auf den Wunsch nach Zuneigung urteilte er so. Der
moralische Rigorismus trug ihm Achtung ein, wie Goldenweiser an vielen Beispielen zeigte. Die große Schar der Anhänger, die sich Tolstoianer nannten, erwarteten aber schließlich auch, dass ihr,
daran manches Mal leidendes, Vorbild streng nach den eigenen Verdikten lebe.
Zeit und Autor
82jährig stand Tolstoi im Jahr 1910, das zu seinem Todesjahr werden sollte, mitten im Weltgeschehen. Er pflegte engen Kontakt mit russischen Revolutionären, sprach sich dagegen aus, dass
einige wenige auf Kosten vieler lebten, suchte ein Leben in Einfachheit und widmete sich dabei komplizierten Überlegungen. Er dachte nach über die buddhistischen Gebote und über Psychologie (dies
gerade auch in Reflexion des Nachdenkens über die Ehefrau). Er pflegte den Austausch mit jüngeren Dichtern, las bis zuletzt viel, dachte nach über das "Schöpferische in der Kunst" und darüber,
wie man richtig leben solle und was der richtige Glaube sei. Seine Schriften rüttelten die Zeitgenossen auf. Sie und wurden daher geliebt, aber auch gefürchtet. Anhänger wurden verurteilt,
schrieben ihm aus dem Gefängnisse, teilten ihm mit, was sie dort erlebten. Tolstoi nahm intensiv am Leben seines Volkes teil. Sein Werk und sein Leben bilden in Einfachheit und Kompliziertheit
eine Einheit.
Der Protokollant
Alexander Goldenweiser, Pianist, Komponist, Kunstwissenschaftler und 50 Jahre lang Professor am Moskauer Konservatorium protokollierte gewissenhaft die Aussprüche des greisen Tolstoi zu
Literatur und Kunst, Philosophie und Politik. Schon als Student verkehrte er im Hause Tolstoi. Sein Spiel wie die Gespräche mit ihm bereiteten dem leidenschaftlichen Musikliebhaber Tolstoi
offenbar Vergnügen. Jedenfalls genoss Goldenweiser Vertrauen. So wurde er Zeuge der innersten Vorgänge des Hauses. In seinem Schreiben sparte er nichts davon aus. Er war parteiisch, aber
gewissenhaft.
Alexander Goldenweiser "Entlasse mich aus deinem Herzen. Tolstois letztes Jahr". Aus dem Russischen von Alfred Frank. Mit einem Vorwort von Margit Bräuer, Aufbau Verlag, Berlin, 2010, 496
Seiten, 26,95 Euro, ISBN 978-3-351-03311-8
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.