Kultur

Literatur als Gegenwelt

von Dorle Gelbhaar · 4. Juni 2009
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Ricarda Huch war eine große alte Dame der deutschen Poesie. Ihren Namen kannte man. Für Widerständiges stand sie in der Zeit des "Dritten Reichs", für eine Literatur, die sich dem Ahumanen nicht unterordnete. Kaum bekannt sein dürfte aber, wie und was sie nach dem Krieg in der DDR schrieb und bewirkte und wie sie zu Tode kam. Den Schatz des Widerstandes hatte sie horten wollen, wurde in der Sowjetischen Besatzungszone auf Grund ihrer Integrität daher umworben und mit Ämtern bedacht und geriet doch wieder in tiefen Widerspruch zum nur formal demokratischen Aufbruch, dem sie schließlich noch mit 83 Jahren mit einem amerikanischen Militärzug zu entfliehen suchte. Den Strapazen nicht gewachsen erlag sie kurz darauf einer Lungenentzündung. Eine neue, antifaschistisch-demokratische Ordnung hatte sie mit aufbauen wollen, sie kulturell stützen, mitentwickeln wollen und war daran gescheitert. Immerhin ihr Name blieb bekannt, war aus der Geschichte nicht zu tilgen.

Ins Vergessen gezwungen
Anders verhielt es sich mit ihr nachfolgenden, erst nach 1945 ihren poetischen Weg beginnenden Dichterinnen, wie Ines Geipel es an einer Reihe von Einzelschicksalen ergreifend beschreibt. Die Namen und das Werk dieser Autorinnen waren oft nur einer verschwindend kleinen Schicht von Menschen bekannt. Sie erhielten keine Gelegenheit, das Potenzial zu entfalten, das sie in sich trugen. Statt dessen wurden sie gerade dieses schöpferischen Potenzials halber in üblem Maße reglementiert, kamen teilweise sogar ins Gefängnis, wurden von ihren Kindern getrennt. Ihr Werk konnte sich oft nur in Ansätzen entwickeln. Es ist Geipels Verdienst, diesen Anfängen nachzugehen und sie zum Geschehen ins Verhältnis zu setzen und schließlich an poetischer Einzigartigkeit noch Vorfindbares aufzuzeigen.

Innerer Auftrag

Die 1960 geborene Autorin des vorliegenden Buches, heute Professorin für Verslehre an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", stammt selbst aus der DDR. Sie gehörte dort zu den Hochleistungsathleten, floh im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen, kämpft - selbst Doping-Opfer - seit etlicher Zeit gegen Doping. An ihr in Jena begonnenes Germanistik-Studium schloss sich in Darmstadt das Studium der Philosophie und Soziologie an. 1996 gab sie ihr erstes Buch heraus, das sich dem Schaffen von Inge Müller widmete. Bereits dieses dreht sich darum, wie eine sensible Dichterin in Widerspruch zum Umfeld DDR gerät und auch an diesem Widerspruch zu Grunde geht. Um die literarische Gegenwelt geht es, die sich nicht einbinden lässt, ihr Eigenes bewahrt.

Zwischen Leben und Werk unterschieden
Das Geschriebene geht zu Herzen. Das betrifft die zitierten Texte ebenso wie das Beschreiben dessen, was den Porträtierten geschah. Dabei entwirft Geipel keine einschichtigen Bilder. Sie lässt nichts aus, auch nicht das Schwach-Werden, den Wunsch angenommen zu werden von der Gesellschaft, den Anpassungsdruck von außen wie von innen. Man gerät immer tiefer in gelebtes Leben und in das literarische Leben hinein, mag nicht aufhören zu lesen und begreift Verbundenheit und Gegensätzlichkeit des einen und des anderen. Die große Leistung Ines Geipels ist es, dass sie die Kraft der Literatur nicht geschmälert zeigt, wo die Kraft der sie Hervorbringenden nicht in gleichem Maße reicht, im persönlichen Leben zu bestehen.

Ans Licht der Öffentlichkeit
Es darf nicht passieren, dass erneut der Vergessenheit anheim fällt, was lange ganz verloren ging. Zukünftige Bestandsaufnahmen sollten auch hier Anleihe tätigen, um das Gesamtbild richtig deuten zu können. Allerdings erfahren wir hier ebenso, wie schmerzhaft der Wechsel von Bewusstseinszuständen und damit einhergehenden Sichtweisen ist und dass Täter und Opfer deshalb nichts strikt voneinander Geschiedenes sein müssen, ja sich in ein- und derselben Person zusammenfinden mögen. Wann gilt was für wen? Wann verkehrt sich was wohin?
Wie hier von der Professorin für Verslehre Ines Geipel praktiziert, sollte auf das Werk geschaut werden, das bleibt. Das derer, die man nicht ins Licht ließ wie das derer, die mehr Glück hatten oder im äußeren Leben relativ illusionslos zu taktieren verstanden oder oder oder …
Der Autorin ist für wunderschöne, bisher unkannte und das Bild bereichernde Verse zu danken. Sie brachte diese ans Licht der Öffentlichkeit.

Dorle Gelbhaar

Ines Geipel "Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945 - 1989", Patmos Verlag GmbH & Co. KG, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009, 288 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-538-07269-5

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Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

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