Im Herbst 1985 erschien ein Buch, das die Bundesrepublik aufrüttelte und für große Empörung sorgte. Der Journalist Günter Wallraff hatte zwei Jahre undercover in der Welt der Gastarbeiter
recherchiert. Verkleidet als "Türke Ali" erlebte er 16- bis 24-Stunden-Schichten in Fastfood-Restaurants, riskantes Arbeiten ohne Schutzkleidung und tägliche Anfeindungen als Ausländer in
Deutschland. In seinem Buch "Ganz unten" beschrieb Wallraff die Grauzonen der bundesdeutschen Arbeitswelt - und löste damit Erschütterung in der Bevölkerung auf der einen sowie eine Prozessflut
der beschriebenen Unternehmen auf der anderen Seite aus.
Christian Rickens hat nun so etwas wie ein Gegenbuch zu Wallraffs Enthüllungen geschrieben. Auch Rickens ist Journalist. Auch er beschreibt den Lebensalltag von Menschen, "die ganz am Rand
unserer Gesellschaft stehen - am oberen Rand". Für sein Buch "Ganz oben" ist der Redakteur des "manager magazins" zwei Jahre durchs Land gereist und hat einige der rund 800 000 deutschen
Millionäre in ihrem natürlichen Lebensraum besucht. Er war zu Gast bei einer Segel-Regatta in Flensburg, auf einem Schloss in Brandenburg und bei einem Pferdederby am Ammersee, um herauszufinden,
"wie Deutschlands Millionäre wirklich leben".
Keine voyeuristischen Homestorys
Wer allerdings glamouröse Homestorys der Schönen und Reichen erwartet, wird enttäuscht. Rickens geht es nicht um Voyeurismus. Stattdessen ist es sein Ziel, "die realen Machtverhältnisse in
unserem Land besser zu verstehen". Das ist ihm gelungen. Geld ist Macht - das wird in Rickens Buch schnell deutlich. Oder, wie es der Autor selbst noch etwas drastischer ausdrückt: "Mit Geld
lässt sich in Deutschland politischer Einfluss erkaufen."
Dabei geht es weniger um Bestechung und Korruption als vielmehr um Zugang zu Politikern - und die Einflussnahme über Stiftungen. Rund 17 000 gibt davon mittlerweile in Deutschland, jedes
Jahr kommen etwa 1000 neue dazu. "Stiften gehen ist heute das wahre Hobby der Millionäre, weit exklusiver als Golf oder Segeln", hat Christian Rickens festgestellt. Sie unterstützen Hochschulen,
Theater oder soziale Einrichtungen.
Was zunächst sehr selbstlos erscheint, hat jedoch häufig knallharte betriebswirtschaftliche Gründe, genießen Stifter doch erhebliche steuerliche Privilegien. Weit kritischer sieht Rickens
allerdings einen ganz anderen Aspekt: "Anstatt schnöde Steuern zu zahlen, können die Reichen als Hausherr in der eigenen Stiftung wie absolutistische Fürsten selbst bestimmen, wem sie Gutes tun
und wem sie es verweigern." Für Rickens ist das schlichtweg "ein Stück Entdemokratisierung".
Leben in Netzwerken
Demokratisch geht es auch unter den Reichen selbst nicht zu. "Zum Millionär wird man in Deutschland in den allermeisten Fällen als Unternehmer oder Freiberufler - oder als Erbe", hat
Rickens festgestellt. Als Angestellter hat man hingegen in der Regel keine Chance, reich zu werden - und als Frau auch nicht: "Das Gesicht des Reichtums in Deutschland ist überwiegend männlich."
Und diese Männerclique sorgt dafür, dass sie unter sich bleibt. "In den Vorstand eines der 400 größten deutschen Unternehmen schafft es der promovierte Spross eines leitenden Angestellten mit
zehnmal höherer Wahrscheinlichkeit als der formal ebenso hoch qualifizierte Sohn eines Arbeiters", hat Christian Rickens herausgefunden. Entscheidend sei nicht akademische Bildung, sondern
ähnliches Verhalten, der so genannte Habitus. Die Logik ist einfach: "Wer den gleichen Habitus aufweist wie der Vorstand, wird seine Abteilung auch im Sinne des Vorstands führen."
Diesen "closed shop" hatte die Journalistin Julia Friedrich vor drei Jahren bereits in ihrem Buch "Gestatten: Elite" beschrieben. Friedrich hatte dafür Internate und Elitehochschulen
besucht und erklärt, wie dort der Grundstein für spätere Karrieren gelegt wird - indem der privilegierte Nachwuchs vor allem lernt, Netzwerke aufzubauen.
Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt
"Ihr ganzes Leben organisieren Reiche am liebsten in Netzwerken, in denen sie unter sich sind", schreibt auch Rickens. Neben dem effektiven Schutz vor Schnorrern böten diese auch exzellente
Möglichkeiten, Geschäfte anzubahnen. Man kennt sich schließlich. Und doch lässt Rickens' Fazit Raum für Hoffnung. "Wir sind in Deutschland mit unseren Millionären gar nicht so schlecht bedient -
zumindest im internationalen Vergleich", schreibt der Journalist. So hätten die Oligarchen in Russland neben der wirtschaftlichen mittlerweile auch große Teile der politischen Macht an sich
gerissen. In Skandinavien dagegen spiele es für die Unternehmer kaum eine Rolle, wie viele Steuern sie bezahlen müssten. "Allerdings sehen sie sich auch nicht wirklich in der Pflicht, der
Gesellschaft freiwillig etwas zurückzugeben."
Fast eindringlich liest sich daher Rickens' Appell am Ende des Buchs: "Mit Kreativität, harter Arbeit und einer gehörigen Portion Glück bringen es manche Menschen zu Reichtum. Doch wer das
geschafft hat, muss einen Teil des Reichtums an die Gesellschaft zurückgeben. (...) Als Gegenleistung gestattet die Gesellschaft den Reichen, ihren Wohlstand in Frieden zu genießen."
Die Instrumente sind bekannt
Dieser Gesellschaftsvertrag, den Rickens beschreibt, ist ein ursozialdemokratischer und vollkommen einleuchtender. Doch leider scheint die Entwicklung in eine andere Richtung zu gehen. "Das
derzeitige Steuersystem wird uns mutmaßlich innerhalb einer Dekade in eine Gesellschaft führen, in der nur noch eine Minderheit des Volkseinkommens durch Arbeit generiert wird, die Mehrheit
hingegen durch Kapitaleinkünften aus Vermögen", prognostiziert Rickens. "Es wäre naiv zu glauben, dass mit dieser Verschiebung der Einkommens und Vermögensstrukturen nicht auch eine Verschiebung
von politischer Macht einherginge - und zwar zugunsten der deutschen Millionäre."
Was dies bedeuten würde, ist nach der Lektüre von "Ganz oben" klar. Auch die Instrumente, mit denen die Politik gegenhalten könnte (Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Wiedereinführung der
Reichensteuer), nennt Christian Rickens. Ob die politische Einsicht da ist, etwas zu ändern, steht freilich auf einem anderen Blatt. Günter Wallraffs Buch über die Situation von Gastarbeitern aus
den 80ern war übrigens nicht nur Gegenstand von Gerichtsverhandlungen. Es leitete auch ein Umdenken der Deutschen ein. Der Arbeitsschutz wurde gesetzlich verschärft. Heute gilt "Ganz unten" als
erfolgreichstes Buch der Nachkriegsgeschichte.
Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, ISBN: 978-3-462-04280-1, 18,95 Euro
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