Schon der Name der Hauptfigur ist ein Hinweis: Chase Insteadman - das lässt sich übersetzen mit "Anstatt-Mensch" - ein Ersatzmensch oder jemand, der nur eine Rolle spielt. Und Chase Insteadman hat eine feste Rolle: Als ehemaliger Jugendstar und Soap-Darsteller, aufgrund von Tantiemen finanziell unabhängig, lässt er sich von der New Yorker High Society als interessantes Party-Schmückstück gebrauchen. Nicht ohne einen gewissen Gefallen daran zu finden.
Gleichzeitig hat seine Rolle auch eine tragische Seite. Chase ist verlobt mit einer Astronautin, die krebskrank in einer Raumstation festsitzt, ohne Hoffnung auf Rückkehr. Aus dem Orbit sendet sie ihm regelmäßige Liebesbotschaften, die in der "kriegsfreien Ausgabe" der New York Times veröffentlicht werden. Seine öffentliche Karriere findet in dieser tragischen Reality-Soap ihre Fortsetzung. Und der "Anstatt-Mensch" spielt seine Rolle, auch wenn er die Verbindung zu seiner Verlobten im All längst verloren hat und sich stattdessen in eine anderen Frau verliebt hat. Seine Aufgabe besteht darin, den Schein zu wahren, sich in der New Yorker Gesellschaft sehen zu lassen und öffentlich Mitleid für seine außergewöhnliche Fernbeziehung zu ernten.
Der perfekte Avatar
Daneben bleibt Chase Insteadman viel Zeit zum Nichtstun, die er in der Regel bei seinem Freund Perkus Tooth verbringt, einem ehemaligen Plakatkünstler und Rockkritiker mit einem Hang zu übermäßigem Marihuana-Konsum. Der mit einem Auge schielende und von Migräne geplagte Perkus Tooth ist die herausragende Figur in "Chronic City". Er lebt zurückgezogen in seinem Appartement, nur unterbrochen von gelegentlichen Ausflügen in ein Burgerrestaurant.
Als eine Art intellektuellem Mentor nimmt er sich dem Schauspieler Chase an und führt ihm in etlichen Marihuana-Nächten die Scheinhaftigkeit seines Halb-Promi-Daseins vor Augen. "Du bist der perfekte Avatar für die Virtualität der Stadt". Dass ausgerechnet Perkus Tooth diese Zusammenhänge erkennt, ist bemerkenswert. Lebt er doch selbst in einer eigenen Welt aus Musik- und Filmzitaten und weigert sich, Fakten wie den Tod seines Idols Marlon Brando anzuerkennen.
Die Welt von "Chronic City" wird immer wieder von irrealen Vorgängen unterbrochen: ein mysteriöser Schokoladengeruch zieht durch die Straßen, ein übergroßer Tiger streift durch die New Yorker U-Bahn und frisst ganze Häuser. Und über dem Wall-Street-Viertel liegt ein merkwürdiger Dunst. Die Figuren des Romans nehmen diese Merkwürdigkeiten hin, ohne sich groß darüber zu wundern.
Fehler in der Matrix?
Auch Perkus Tooth Interesse für Tongefäße namens Kaldron gehört zu diesen Merkwürdigkeit. Wie ein Besessener hält er sie für so etwas wie die Antwort auf alle Fragen, ihre Form für vollendet. Er versucht, sie im Internet zu ersteigern. Doch die Nachfrage ist hoch, die Preise steigen ins unermessliche, letztlich bleiben die Kaldrone unerreichbar. Als herauskommt, dass auch sie nur virtuell sind, erschaffen von einem Obdachlosen, der dadurch reich wird, schließt sich der Kreis. Über den Umweg des Kapitalismus ist die Virtualität in der Wirklichkeit angekommen.
Nicht nur die Leser, sondern auch die Bewohner von Chronic City selbst beginnen an der Wirklichkeit ihrer Welt zu zweifeln. Sind Schokoladengeruch und Tiger in U-Bahn-Schächten vielleicht einfach Fehler in der Matrix? Eine Antwort gibt der Roman nicht, die Zweifel bleiben.
Jonathan Lethem hat in "Chronic City" eine merkwürdige Parallelwelt mit vielen Fragezeichen geschaffen. Die erfrischenden Figuren und ihre kurzweiligen Dialoge sorgen dafür, dass man sich gerne auf diese Welt einlässt.
Jonathan Lethem: Chronic City, 1. Aufl. 2011, 495 Seiten, 24,95 Euro ISBN: 978-3-608-50107-0