Allein die Vielzahl an Namen für diesen einen Strom, den August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in seinem "Lied der Deutschen" verewigte, ist eine Geschichte für sich. Die deutschen, russischen, litauischen, polnischen und weißrussischen Umschreibungen für ein Ganzes symbolisieren das Gemeinsame in der Vielfalt, die jenen Kulturraum prägt.
Den Zeugnissen einer wechselhaften Vergangenheit im heutigen Litauen, Polen, Russland und Weißrussland auf der Spur, geht Rada in einem Buch "Die Memel" regionalen Identitäten nach, die sich abseits von Grenzziehungen, Kriegen und Umsiedlungen herausgebildet haben. Zum Beispiel stellt er jene "autochthonen Memelländer" am Unterlauf vor, die sich in der Vergangenheit weder von Deutschen noch von Litauern vereinnahmen ließen. "Neben den nationalen Narrativen gibt es immer noch eine zweite, eine regionale Erzählung", so der Autor.
Europas Zukunft an der Memel
Genau diesen Erzählfaden verfolgt Rada auf seinem Streifzug durch die Literaturgeschichte und während seiner Reisen von der Quelle bis zur Mündung der Memel. Und nicht nur das: Indem der Titel des Buches auf die europäische Dimension des Themas eingeht, wird klar, dass es dem taz-Redakteur auch um Probleme der Gegenwart geht. "Ob Europa offen bleibt für andere oder oder ob es sich abschottet, entscheidet sich an seinen Rändern", schreibt er. Die damit verbundene Frage, ob die Memel ein verbindender oder ein trennender Fluss ist, stellt sich heute mehr denn je.
Dafür genügt ein Blick auf die Landkarte. Die Memel entspringt südlich von Minsk, durchquert den Westen Weißrusslands nahe der polnischen Staatsgrenze sowie den litauischen Südwesten. Bis zu ihrer Mündung ins Kurische Haff bildet sie die Grenze zwischen dem russischen Gebiet Kaliningrad und Litauen. Somit durchfließt dieser Strom jenen Teil Europas, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Sowjetisierung Ostpreußens und der Westverschiebung Polens besonders drastische Zäsuren erlebt hat. Ganz zu schweigen von der Auslöschung jüdischen Lebens während der NS-Herrschaft.
Grenzer statt Dampfer
Nach 1945 wurde die Memel zu einem rein sowjetischen Strom, Urlauber fuhren mit dem Dampfer von Weißrussland ins litauische Druskininkai, noch heute ein beliebter Ferienort. Doch seit dem Beitritt Litauens zur Europäischen Union und dem Schengenraum bestimmen nicht Ausflugsschiffe, sondern Grenzer das Geschehen am östlichen Rand des Baltenstaats. Ohne Visum bleiben die Nachbarn aus den GUS-Staaten ausgesperrt. Wenige Kilometer memelaufwärts, in der Region zwischen dem polnischen Białystok und dem weißrussischen Grodno, zeichnen sich ähnliche Probleme ab. Dass schätzungsweise 400 000 Polen unter Lukaschenkos Fuchtel leben, macht einen unbürokratischen Reiseverkehr von Ost nach West umso dringlicher.
Wie geht es also weiter am nordöstlichen Rand der Europäischen Union? Rada, der die Entwicklung auf zwischenstaatlicher Ebene eher skeptisch beobachtet, wählt die Graswurzelperspektive, wenn er vom Wandel der Erinnerungskultur und den zaghaften Ansätzen grenzüberschreitender Zusammenarbeit berichtet. Großspurig angekündigter Projekte wie die "Euroregion Memel" misst er an der Realität.
Und die bietet selten Anlass zu Enthusiasmus. Ob er den schwierigen Alltag weißrussischer Touristiker vorstellt, auf einem klapprigen Fischerboot über das Kurische Haff tuckert oder am öffentlichen Nahverkehr zwischen Litauen und Polen verzweifelt : Ebenso wie in den Abschnitten zur bewegten Historie gelingt es ihm, abstrakte Gegebenheiten anhand von Betroffenen erlebbar zu machen.
Das Große im Kleinen
Diese Mischung aus Reisebericht, politischer Analyse und Geschichtsdarstellung lebt von großer Empathie für die Menschen und einem gelassenen Erzählton. Das beeindruckende Hintergrundwissen des Autors und seine zwischenmenschlichen Erfahrungen vor Ort finden darin gleichermaßen Raum. Obendrein scheint eine politische Vision hindurch: Immer wieder fließt Radas Hoffnung auf eine von den Regionen getragene Annäherung ein, um den Eigenheiten dieser Gegend gerecht zu werden.
In den Worten des polnischen Dichters Krzystof Czyzewski, der sich als Initiator der Grenzland-Stiftung für die Wiederbelebung der kulturellen Vielfalt im Nordosten Polens einsetzt, klingt jene Vision so: "Diese Grenzen sind temporäre Grenzen. Früher oder später bringt uns der Fluss wieder zusammen. Gemessen an dem, was dieser Strom erlebt hat, ist die Gegenwart nur die Oberfläche."
Uwe Rada: "Die Memel. Kulturgeschichte eines europäischen Stromes" Siedler Verlag, München 2010, 368 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978 388 680 930 1