Kultur

Kämpfen, lieben, klauen

von Susanne Dohrn · 21. Januar 2011
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Man liest und schmunzelt. Man liest und runzelt die Stirn. Man liest und ärgert sich. Die Autoren, die sich "Unsichtbares Komitee" nennen lästern über Politiker - die "Champion-Posen" einnehmen oder Unschuldsminen aufsetzen und "ihre Reden gemäß den neuesten Funden der Werbeabteilung austauschen". Die Leserin denkt an Westerwelle, Guttenberg und Seehofer und findet: Sie haben recht.

Die Rezensentin liest weiter: "Nichts von alledem, was sich präsentiert, ist auch nur im Entferntesten auf der Höhe der Situation", und findet angesichts von Staatsschulden, steigendem Meeresspiegel und der großen Masse von Niedriglöhnern: Da ist was dran. Sie liest über die "Kluft zwischen der Politik und dem Politischen" und denkt an Stuttgart 21, Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, Bahnprivatisierung und sieht Parallelen zu dieser in Frankreich entstandenen Analyse.

Der Kadaver Familie

Aber schon bald wird es schwierig. Individualisierung und Vereinzelung werden als Ursache allen Übels beschrieben, die Familie als "Kadaver" bezeichnet und das Paar als "letzte Stufe des großen gesellschaftlichen Fiaskos". Die Leserin blickt aus dem Fenster auf Einfamilienhäuser, in denen Paare leben, Familien mit Kindern, Rentner, Menschen die beim Nachbarn Schnee fegen, abends zusammensitzen, reden und feiern, die sich helfen und grüßen, sie denkt an das Netzwerk von Freunden und Familie und runzelt die Stirn: So schlimm kann es nicht sein.

Sie blättert zurück in dem dünnen Bändchen und liest, dass die Menschen einander fremd geworden sind, dass nur schwache Interaktionen uns noch verknüpfen, dass sich dahinter "kybernetische Einsamkeiten" verbergen. Kybernetik bedeutet "steuermännisch". Gesteuerte Einsamkeiten also? Das "Unsichtbare Komitee" schreibt: "Man will aus uns schön eingegrenzte Ichs machen, schön getrennt, nach Eigenschaften klassifizierbar und erfassbar: kontrollierbar....". Das ist dann wohl das, was mit Kybernetik gemeint ist. Ziemlich verschwörungstheoretisch klingt das. Und wer "man" ist bleibt im Unklaren. Vermutlich "das System" oder, um in der Terminologie des Buchs zu bleiben, das kapitalistische System.

Sklaverei der Lohnarbeit

Dass in dem nicht alles zum Guten bestellt ist, wer wollte es bezweifeln. Das gilt ganz bestimmt für die Jugendlichen in Frankreich, von denen mehr als 25 Prozent ohne Arbeit sind. Sie fühlen sich verschaukelt von der Schule mit ihrem ständigen Erwartungsdruck, von den Medien, die ihnen eine schöne Welt vorgaukeln und von einem Arbeitsmarkt, der sie zurückweist oder ihnen Aushilfsjobs als Putzfrau, Kellner usw. anbietet. Arbeiten, die sie als Sklaverei empfinden und auf die sie einen "Scheißdreck geben". Ihre Antwort nennen sie "Demobilisierung", "sich jenseits und gegen die Arbeit zu organisieren".

Leben im Kollektiv

In der Logik des Autorenkomitees ist der Aufstand der einzige Ausweg aus dem faden, nutzlosen Leben, zu dem sie gezwungen werden, Wie der aussehen könnte, muss zitiert werden, denn nun wird es ärgerlich. "Autonom werden" schreiben die Autoren, "könnte genauso gut bedeuten: lernen, auf der Straße zu kämpfen, sich leere Häuser anzueignen, nicht zu arbeiten, sich wahnsinnig zu lieben und in den Geschäften zu klauen." Die Rezensentin, die vom Alter her vermutlich ihre Mutter sein könnte, fragt zurück: Wovon wollt ihr Leben, wenn die Läden leer sind? Wollt ihr Gemüse anbauen? Hühner und Schweine mästen und schlachten? Holz hacken und im Winter bei Kerzenschein frieren?

Im Kollektiv, in vielen Kollektiven, das Leben organisieren, wie die Autoren vorschlagen, das funktionierte, als die Menschen noch Jäger und Sammler waren. Aber - Hand aufs Herz - so könnte und wollte doch heute keiner mehr leben.

Unsichtbares Komitee: "Der kommende Aufstand", Edition Nautilus, Hamburg 2010,128 Seiten, 9,90 Euro, ISBN 978-3-89401-732-3

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Susanne Dohrn

ist freie Autorin und ehemalige Chefredakteurin des vorwärts.

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