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Im Grunde gibt es erst seit den 90er Jahren eine neue Literaturbewegung in der Türkei. Denn die kulturelle Entwicklung des Landes wurde drei Mal im Abstand von zehn Jahren (1960, 71, 80) von Panzern unterbrochen. Ein Bücherverbot (1983) und die fast völlige Ausschaltung der türkischen Intelligenzija haben tiefe Wunden hinterlassen, die erst allmählich zu Narben verheilen. Gesellschaftliche Umwälzungen, von denen sich die türkische Kunst-, Kultur- und Literaturszene bis heute nicht hat erholen können. Denn die vom Militär angeordnete Verfassung aus dem Jahre 1982 gilt bis heute.

Doch die türkische Literatur hat sich ein gutes Stück von ihren alten Fesseln und Ängsten lösen können. Bis vor zehn Jahren noch zeichnete Stille die türkische Literatur aus, betont Verleger und PEN-Mitglied Ragip Zarakolu. Er stand schon 40 Mal vor Gericht, weil er Bücher herausgibt, die Tabuthemen thematisieren. Heute hingegen behandelt die türkische Literatur auch Randthemen des gesellschaftlichen Lebens. Wie das Land selbst bewegen sich auch die Autoren stets zwischen Tradition und Moderne. Zudem sind immer mehr Themen einzelner Autoren wie Gewalt, Meinungsfreiheit oder Minderheiten im Laufe der Zeit auch zu Themen des Landes geworden.

Kampf um die Freiheit des Worts
Yasar Kemal, Orhan Pamuk und Elif Safak sind nur drei bekannte Größen der türkischen Literatur. Im Ausland weniger bekannt, aber nicht minder bedeutend sind zum Beispiel Enis Batur, der neue qualitative Standards für die klassische Literatur einführte; Murathan Mungan, der viele gesellschaftliche Tabus bricht, Hasan Ali Toptas, der als ein Geheimtipp gilt und für eine neue poetische Qualität der türkischen Sprache sorgt; Oya Baydar, die es schafft aus Lokalem Universelles zu machen. Alles Autoren, die unabhängig von der Politik gesellschaftliche Themen ansprechen, die lange verschwiegen wurden.

Politisch äußern wollen sich Pamuk und Safak aufgrund vergangener Morddrohungen nicht mehr. Eine Art von Selbstzensur, bedauert der Literaturkritiker Cem Erciyes von der linksliberalen Zeitung "Radikal". Beide aber waren die ersten Autoren, die sich in der Türkei erfolgreich vermarktet haben.

Asli Erdogan, Sebnem Isigüzel, Murat Uyurkulak, Müge Iplikci, Jaklin Celik sind nur einige Namen der neuen jüngeren Generation türkischer Schriftsteller mit Klasse, die sich weg von der Politik hin zum Eigentlichen, der Literatur, bewegen, neue Genres schaffen, einen gänzlich anderen Einblick gewähren, den literarischen Austausch mit anderen Ländern suchen und trotz ökonomischer Schwierigkeiten einfach schreiben.

Ähnlich wie Paris hat auch Istanbul im Land mittlerweile eine zentrale Rolle, wenn es um Kultur und Literatur geht. Doch mit der jüngeren Generation, die auch international Interesse weckt, sind Ablösungstendenzen entstanden. So werden z.B. auch Geschichten über Ankara oder Diyarbakir erzählt. Für den Literaturkritiker Cem Erciyes eine großartige Entwicklung. Entscheidender aber sind die Veränderungen in der Literaturkritik selbst. Denn mit der Globalisierung wird es nun auch in der Türkei keinen Literaturkritiker mehr geben, der wie ein König alleine die gesamte Literaturszene be- und verurteilt, erklärt Erciyes.

Dass sich die türkische Literatur heute in einer wachsenden Vielfalt präsentieren kann und den Mut gefunden hat, auch über Tabuthemen wie Kurden, Armenier oder Homosexualität zu schreiben, ist der Musik zu verdanken. Genauer der Kalan-Müzik in Istanbul. Das Label, das sich für die "übrig gebliebene" (kalan) Musik der verschiedenen Epochen und Ethnien des Landes einsetzt, schaffte es durch unzählige Prozesse, dass Politik und Behörden nicht wie noch vor fünf Jahren nach Gusto Verbote erlassen konnten.

Ein Kampf, der auch die Literatur wieder belebte. Noch bis zum Jahre 2002 galt Hasan Saltik, der Gründer des Labels, als Landesverräter und bekam gar die Lizenz entzogen. Heute hingegen verteilt und verschenkt die Regierung stolz die Musik von Minderheiten und Saltik ist nun auch im eigenen Land der Held der Musik: Das gesamte Musikarchiv des Staatssenders TRT darf von ihm herausgegeben werden.

Kritiker wie Schriftsteller sind sich einig, dass der Auftritt bei der Frankfurter Buchmesse keine politischen Auswirkungen haben wird, auch wenn sich das Land an einem Wendepunkt befindet. Die Büchse der Pandora ist geöffnet.

Claudia Hahn-Raabe ist Leiterin des Goethe-Instituts in Instanbul

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