Inland

Abschied von der Paukerschule

von Hartmut von Hentig · 21. Oktober 2008
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Der Bildungsgipfel findet am 22. Oktober in Dresden statt. Er wurde von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) initiiert. Bund und Länder wollen dort gemeinsame Konzepte beschließen. Vor allem CDU-geführte Länder sehen den Vorstoß der Kanzlerin kritisch. Sie fürchten, dass sich der Bund noch mehr in ihre Aufgaben einmischt.

1. Die Möglichkeiten der Bundesregierung, auf das Ansehen und die Qualität unserer Schulen Einfluss zu nehmen, sind beschränkt, nicht nur, weil sich der Bund in der sogenannten Föderalismusreform weitgehend aus der Bildungspolitik zurückgezogen hat, sondern weil politische Maßnahmen, die der Schule zugutekommen sollen, überhaupt nur langsam und indirekt wirken. Das Land Baden-Württemberg hat soeben eine "Bildungsoffensive" gestartet, die aus den folgenden Maßnahmen besteht: Bereitstellung von 3200 zusätzlichen Lehrerstellen, Herabsetzung des "Klassenteilers" auf 28 Schüler, einer Aufwertung der Hauptschule, der Verlängerung der Leitungszeit und die Einrichtung von Fortbildungskursen, die die Lehrerauswahl verbessern sollen.

Das kann sinnvoll sein, aber: die Lehrer sind nicht vorhanden, Baden-Württemberg muss sie aus anderen Ländern abwerben; die Schulklassengröße ist seit Jahrzehnten zu hoch für die quirligen heutigen Kinder und Jugendlichen und müsste bei gleichzeitiger Veränderung der Lern- und Lehrformen nicht auf 28, sondern auf 20 gesenkt werden; eine Auswahl kann man nur treffen, wo das Angebot die Nachfrage übersteigt - und setzt vor allem anerkannte und klare Kriterien voraus.

2. Die Kriterien für die gute Schule und den guten Lehrer sind strittig. Das Wort "Bildung" bedeutet heute (auch in den meisten Zusammensetzungen mit ihm) in erster Linie Ausbildung, das heißt "Tauglichkeit für eine gesellschaftliche Funktion", die in einer Schule erworben wird. Auch die so genannte allgemeine Bildung ist weitgehend Vorbereitung auf die nächste Ausbildungsstätte - die Hochschule oder die Berufsausbildung. Die häufigste über die Schule geführte Klage gilt der angeblich mangelhaften "Ausbildungsfähigkeit" ihrer Absolventen.

3. In unserer öffentlichen Debatte über die Reform der Schule stehen sich zwei Ansichten von ihrer Aufgabe (unversöhnt) gegenüber: Für die einen ist sie eine Einrichtung, die den Einzelnen an kanonisierten Bildungsgütern möglichst vielseitig "bildet" und ihn sowohl in seine Kultur als auch in seine Aufgaben als Bürger einführt. Für die anderen ist sie eine Einrichtung, die die Gesellschaft mit einem Nachwuchs versorgt, der in wenigen Schlüsselqualifikationen geübt ist, sich in der wechselvollen, globalisierten und von Science, Technik und Ökonomie bestimmten Welt behaupten kann und an den Errungenschaften der modernen Zivilisation teilhat. Gegenwärtig bedient die Bildungspolitik in unserem Land im Wesentlichen die zweite Vorstellung. Das hat erkennbare Gründe:

4. Internationale Vergleichsuntersuchungen - die wichtigsten im Auftrag der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - machen die Steigerung der Schülerleistungen in wenigen messbaren Kompetenzen zu der nationalen Aufgabe im Dienst unserer Zukunft, weshalb "Bildung" im zweiten Verständnis in allen Parteiprogrammen eine hohe Priorität einnimmt.

5. Die allgemeinbildende Schule wird durch die hieraus folgenden Maßnahmen nicht besser.
Die Schule wird durch die Konzentration auf das, was in der "Evaluation" zählt, einseitiger; die Erziehung zum Bürger, die Erkundung und Ausbildung besonderer Begabungen (abseits des curricularen Mainstreams), die Übung in Gemeinschaft, Verantwortung, Kooperation und selbstständigem Handeln - sie alle kosten Zeit - werden vernachlässigt. Zwar haben sich inzwischen alle Schulen vorgenommen, auf jedes Kind individuell einzugehen, aber diese hohe Kunst ist weder in den großen Klassen noch bei der strengen Einteilung nach Altersjahrgängen, noch bei zentralen Prüfungen zu verwirklichen; meist läuft die Einzelbetreuung deshalb auf die Austeilung von Arbeitsbögen hinaus, die der Schüler "ohne die anderen" abarbeitet.

6. Die Schule wird sodann "unpädagogisch"; das learning to the test tritt an die Stelle anderer Bildungsanstrengungen - in einem Maß, das seinerseits einer gründlichen Untersuchung durch die OECD wert wäre; die Taylorisierung der Schule nach Pisa erstickt die natürliche Lernbereitschaft der Schüler, verdirbt demLehrer die Freude an seinem - dem von ihm gewollten und verantworteten - Unterricht und versetzt obendrein die Eltern in eine kollektive Panik hinsichtlich der Laufbahn ihrer Kinder. Die Schule wird durch all dies vollends ungerechter, denn sie wirkt nun noch bedrohlicher für die sogenannten "bildungsfernen" Schüler, und die Anstrengungen der "bildungsbesorgten" Eltern spielen ungewollt dabei mit. Mit anderen Worten: Die heutige Schule paukt und sortiert; sie entspricht nicht unserer Zeit.

6. Die wenigen, löblichen, aber unvollkommenen Vergleichsuntersuchungen
und die dabei erzielten schlechten Ergebnisse der deutschen Schule verführen die Bildungspolitiker dazu, das Ausbildungsfähigkeits-Sprachdefizits-Migrations-Schulverweigerungs-Gewaltbereitschafts-Begabungsverschwendungs-etc.-Syndrom mit Maßnahmen zu beantworten, die nach ihrer Vorstellung schnell wirken: bis zur nächsten Pisa-Runde und zur nächsten Wahl. Diese Maßnahmen werden nicht
erreichen, was sie sollen.

7. Notwendig ist es, das Selbstvertrauen der Schulen
und Lehrer zu stärken, sie aus der Rolle des staatlichen Wissenstrainers zu befreien, sie zu Mentoren ihrer Schüler zu machen. Das ist eine langfristige Aufgabe und wird so lange nicht einmal in Angriff genommen, wie man von den drei Aufträgen der Schule nur die praktisch-funktionale im Sinn hat und nicht im gleichen Maß die
politisch-soziale und die persönlich-kulturelle. Die Bundesregierung kann diese Forderung - auch ohne jede spezielle Maßnahme und bundesrechtliche Zuständigkeit - aussprechen und zu öffentlicher Geltung bringen.

8. Fragen dann die Landesregierungen, die Schulgemeinden und Lehrer(-Verbände), was sie ihrerseits tun könnten und sollten, muss man ihnen nicht gänzlich Neues (das gibt es gar nicht in der Pädagogik), nicht plötzlichen Wandel (einen "Ruck"), nicht zusätzliche Lasten zumuten, sondern sie auffordern,
durch Erfahrung und Wissenschaft Wohlbegründetes, schon Bekanntes und Begonnenes geduldig und konsequent zu verwirklichen:

- die Autonomisierung der Schule / Übernahme von Verantwortung für die Rekrutierung ihrer Lehrer, die Nutzung ihrer Ressourcen, die Einteilung ihrer Zeit und ihrer Areale

- Ganztagsschulen zur Entzerrung der Lern- und Lebensvorgänge in der Schule / Finanzierung des dazu nötigen Umbaus

- Entschulung des Lernens der 13- bis 15-Jährigen, der "im Prinzip" alle Schulleute zustimmen, weil in dem Alter das Lernen mit Papier und Bleistift, aus Büchern und Lehrerwort nicht gelingt / die Schulforschung berichtet: Lernzuwachs null in Jahrgang 9

- eine Senkung der Klassenfrequenz - wenn nicht anders möglich, dann durch Senkung der Zahl der formalisierten Unterrichtsstunden

- Integrationsmaßnahmen innerhalb der Schule, vor ihr und neben ihr /hierfür ist eine veränderte Einstellung zu anderen Religionen und Kulturen, eine verstärkte Einbeziehung der Eltern, ein entspannter Umgang mit Zeit nötig; die Schule muss sich als eine Polis verstehen

- eine gemeinsame Aktion der Bundesministerinnen für Familie, für Gesundheit, für Bildung und Wissenschaft zur Prüfung geeigneter Maßnahmen, die ein vernünftiges Aufwachsen in der von Medien bestimmten Welt ermöglichen.

9. Es gibt Voraussetzungen für die Herstellung einer "Schule als Lebens- und Erfahrungsraum":

- Die lehrerbildenden Hochschulen und die erziehungswissenschaftliche Forschung brauchen Laborschulen - Experimentalspielräume, um Alternativen systematisch und vorgreifend zu erproben.
- Pädagogische Hochschulen, die für diese Verantwortung übernehmen, können an ihnen nicht nur feststellen, was ist (und meist schlecht ist); so werden sie zu Orten einer veränderten und praxisnahen Lehrerbildung.

- Evaluation sollte durch Beobachter, Partnerschulen, Erfahrungsaustausch nach dem Muster von "Blick über den Zaun" erfolgen, mithin durch Beobachtung und Beschreibung einzelner Schulen, denen ihre Sache gut gelingt.

10. Allen am Bildungsgipfel Beteiligten
ist zu wünschen, dass sie einmal ihre Schreib- und Konferenztische tatsächlich für einen Monat verlassen und sich je zu einem Drittel der Zeit an kreuznormalen Schulen, an Krisenschulen, an Schulen im Aufbruch aufhalten, möglichst zwei ganze Tage an einer - mit ausgiebiger abendlicher Aussprache in der Schulgemeinde. Sie kennen ihre
Schulen nicht wie sie sind, sondern wie sie ihnen von Journalisten, Lobbys, Forschergruppen, Anklägern und vortragenden Beamten geschildert werden. Sie würden ernüchtert und ermutigt heimkehren und entweder schneller zur Einigung untereinander kommen oder über die richtigen Aufgaben streiten.


Hartmut von Hentig ist Pädagoge und Publizist. Bekannt wurde der Pädagogikprofessor in den 1970er Jahren als er in Bielefeld eine Laborschule gründete. Er fordert Aufklärung über von Menschen gemachte Systemzwänge und setzt dabei auf die Selbstbestimmung eines jeden. Diese zu stärken sei Aufgabe von Bildung.

Der Artikel erschien erstmals am 10. Oktober 2008 in der Frankfurter Rundschau

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