Es muss wirklich eine Art Fieber gewesen sein, das mich als Teenager bei einem Winterurlaub befiel. Statt auf Alpengipfel zu steigen, stand ich im schummrigen Dunkel einer Wirtschaft und warf
einen Franken nach dem anderen in den großen schwarzen Kasten, um mir mit hektisch hin- und hergerissenem Steuerknüppel einen Weg durchs Punkte-Labyrinth zu fressen. "Pacman" hieß das Spiel, bei
dem einem gefräßige Kugelgeister auf den Fersen waren. Es war auf der ganzen Welt so erfolgreich, dass kurz darauf ein Song darüber die Hitparaden stürmte: "Pacman-Fever."
Zwei Jahrzehnte sind vergangen, seit strichmännchenartige Computerspiele auftauchten, und in der Zwischenzeit ist ein Spiele-Universum entstanden, das für jeden, der auf dem Stand von Pacman
stehen geblieben ist, ein Buch mit sieben Siegeln ist. Wer das Untergeschoß eines Multimediakaufhauses betritt, findet sich in einer Unterwelt wieder, die einem tausendköpfigen Fabelwesen gleicht.
Da starren grinsende Comicaugen, martialische Kriegerfratzen, triumphierende Fußballergesichter. Doch der Unkundige weiß nichts mit den Beschreibungen und Kürzeln an- zufangen, die auf den
Pappschachteln stehen. Es ist eine Parallelwelt, von der ihm nur Klischees im Kopf sind - genährt von den Horrormeldungen, die erst in diesen Tagen wieder aus einer deutschen Schule drangen. Ein
Amok laufender Schüler verwechselte die Realität mit der Spielewelt und marschierte mit geladenen Waffen in die Lehranstalt, um dort - ganz wie im Ballerspiel "Counter Strike" - auf Lehrer und
Mitschüler zu schießen. 37 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.
Schon ist eine neue Debatte um Computerspiele entbrannt. Sind sie für Jugendliche gefährlich? Müssen viele von ihnen verboten werden? Einer, der es wissen muss, ist Spielefan André Peschke.
Im Schnitt verbringt er zwei bis drei Stunden am Tag mit "Gaming". Peschke (29) machte das Hobby zum Beruf und ist heute Online-Chefredakteuer der Computerspielplattform "Krawall Gaming Network".
Natürlich, sagt Peschke, gäbe es "im Shooterbereich" (Kriegs- und Ballerspiele) nach wie vor eine Reihe sehr populärer Spiele. Doch der Spielemarkt sei heute so vielfältig, dass diese im Vergleich
zu den unzähligen völlig gewaltlosen Strategie- und Fantasyspielen nur eine Randgruppe seien. Im Trend lägen derzeit vor allem Online-Spiele, bei denen sich die "User" über Internet in einer
virtuellen Welt treffen. Berühmtestes Beispiel: "World of WarCraft" (Blizzard), ein Fantasyabenteuer, das an J.R. Tolkiens "Herr der Ringe" erinnert und an dem weltweit mittlerweile sechs Millionen
Spieler teilnehmen. Ganz im Gegensatz zu den "Ego-Shootern" sind solche Spiele, so Peschke, "konzeptionell darauf angelegt, die anstehenden Aufgaben in Gruppen zu lösen". Über Kontinente hinweg
kommunizieren die Spieler eines Teams: "So entstehen Freundschaften unter Leuten, die sich sonst nie kennengelernt hätten."
Peschkes Aussagen werden bestätigt von einer aktuellen Studie, die man sich unter "Spielplatz-Deutschland.de" herunterladen kann. Sie räumt mit dem Klischee von spätpubertären Einzelgängern
auf, die ihre fehlenden Sozialkontakte durch brutale Ballerspiele ersetzen: Da ist der Typ des "Freizeitspielers", der im Schnitt 44 Jahre alt ist und - meist eine Frau. Der (etwas jüngere)
"Gewohnheitsspieler" dagegen lädt sich am Wochenende Freunde zum Spielen ein: Wo man früher Nachmittage bei Brettspielen verbrachte, hängen jetzt ganze Freundescliquen an der Spielkonsole und bauen
gemeinsam Fantasiestädte auf.
Stephan Winter (30) hat sich dem Trend zum sinnvollen Spielen beruflich verschrieben und mit zwei Kollegen die Spielefirma "Limbic Entertainment" gegründet. Sie hat eine stark wachsende und
bislang noch vielfach vernachlässigte Zielgruppe im Visier: Mädchen. Der Erfolg gibt Winter Recht. Weil sich das Spiel "Mein Pferdehof" weltweit über 500 000 Mal verkaufte, kommt zu Weihnachten
eine Fortsetzung auf den Markt. Wieder geht es darum, erfolgreich ein Pferdegut zu verwalten, ein Spiel, das nicht nur kindliche Hanni-und-Nanni-Träume wahr werden lässt, sondern auch eine
spielerische Schule in Lebensmanagement ist.
"Limbic Entertainment" ist Beleg dafür, welch ambitionierte Spieleentwickler es hierzulande gibt. Mittlerweile gibt es in Deutschland Produktionsfirmen, die Millionensummen in die Entwicklung
eines Spiels stecken und zwei bis drei Jahre an die hundert Programmierer, Grafiker und Drehbuchautoren beschäftigen. Deutscher Spielehit verspricht in diesen Weihnachtstagen "Anno 1701"
(Sunflowers Interactive) zu werden, die dritte Folge eines Besiedlungspiels, bei dem man ein Dorf errichtet, Handel treibt und politische Widersacher in Schach halten muss.
Computerspiele können Denksportstudio, Fantasieschule oder Playing Ground sein. Doch weist ein Wissenschaftler beharrlich auf die Gefahren des Computerspielens hin: Christian Pfeiffer (62)
vom kriminologischen Institut der Uni Hannover. In einer neuen Untersuchung über "Mediennutzung, Schulerfolg, Jugendgewalt" untermauert er, dass der übermäßige Gebrauch von Computerspielen gerade
bei lernschwachen Schülern zu schlechten Schulleistungen führt, und, ja: zu gewalttätigem Verhalten. Aber die Hauptschuld trifft in seinen Augen dabei weniger die Spielehersteller als die
sogenannte USK (Unterhaltungssoftware SelbstKontrolle), die zu lax bei der Zuweisung der Altersbeschränkungen sei. So geraten vier Fünftel der brutalen Shooter-Spiele viel zu früh in die Hände
Minderjähriger - auch solche, die wegen Gewaltverherrlichung eigentlich ganz verboten werden müssten.
Dennoch: Nicht das Medium Computerspiel ist schlecht, sondern der falsche Umgang damit. Vor ihm müssen Jugendliche geschützt werden. Deshalb sollte vielleicht für die vielen guten,
unterhaltsamen Computergames sogar mehr Aufmerksamkeit erzeugt werden. Dass man für sie keine neuen Spielkonsolen oder andere teuren Anschaffungen benötigt, beweist Spieleprofi André Peschke. Eines
seiner Lieblingsspiele ist nach wie vor "Super Mario Brothers III", ein Klassiker aus den frühen 90ern. Den gibt es mittlerweile in der alten Originalversion zum kostenlosen Downloaden für jeden PC
- so wie "Pacman".
www.chip.de/downloads
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