Geschichte

Ein staatsgefährdendes 
Maß an Loyalität

von Johano Strasser · 2. Oktober 2010
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Wenn wir uns fragen, was letzten Endes zum Zusammenbruch der ddr geführt hat, fällt uns zumeist ein ganzes Bündel von Faktoren ein, von denen wir annehmen, dass sie das dramatische Geschehen irgendwie beeinflussten, deren spezifisches Gewicht wir aber nur schwer abschätzen können: der Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung, die unter dem Dach der evangelischen Kirche operierenden Friedens- und Umweltinitiativen, die Tatsache, dass angesichts der Entspannungspolitik das Feindbild des westdeutschen Revanchismus nicht mehr aufrecht zu halten war, die stagnierende wirtschaftliche Entwicklung, das Auftreten Gorbatschows, die Ausreisebewegung und natürlich die Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderswo.

Ein Faktor allerdings wird so gut wie nie genannt, vermutlich, weil er für westliche Beobachter der Ereignisse nicht weniger irritierend ist, als er es seinerzeit für die wachsamen Organe der ddr war. Wir meinen die Aktivitäten jener jungen Leute, die in den Berichten und Analysen der Stasi als Gruppe Loblied geführt und von Mitte der 1980er Jahre bis zum Mauerfall auf allen Ebenen von Partei und Staat bis hinauf zum Politbüro für Verwirrung sorgten.

Als Kopf der Gruppe galt der Bauelektriker Alfons Beil aus Köpenick, ein, wie es in einem Spitzelbericht des auf ihn angesetzten im Falter heißt, "unauffälliger junger Mann, über den nichts Verdächtiges in Erfahrung zu bringen ist". Nun fragt man sich natürlich, wieso die Stasi über Jahre hinweg einen Menschen bespitzeln lässt, an dem beim besten Willen nichts Verdächtiges auszumachen ist. Der Grund ist einfach: Ähnlich wie religiöse Eiferer sich keinen halbwegs rechtschaffenen Menschen vorstellen können, sondern überall nur Sünde wittern, konnte sich auch bei der Stasi niemand vorstellen, dass es einen Bürger der ddr geben könnte, der nicht dann und wann im privaten Kreise abfällige Bemerkungen über die Staatspartei machte oder sich über die Versorgungslage, die Reisebeschränkungen, die Privilegien der Bonzen oder die Wartezeiten beim Trabi beklagte. Jemand, der den Anschein solch unerhörter Folgsamkeit erweckte wie dieser Beil, konnte in den Augen der Systemschützer nur ein besonders geschickt getarnter Dissident sein.

Mehrere Jahre lang war den Berichten, die im Falter in die Normannenstraße lieferte, nichts zu entnehmen, was diesen Verdacht erhärtet hätte. Bis Alfons Beil eines schönen Nachmittags nach Ende seiner Schicht auf dem Alexanderplatz vor Hunderten von ddr-Bürgern und einigen Tagesbesuchern aus dem Westen wiederholt ausrief: "Hoch lebe der Staatsratsvorsitzende! Hoch lebe der Genosse Erich Honecker!" Einige der Besucher aus dem Westen schmunzelten belustigt, die meisten aber schlugen verlegen die Augen nieder, weil sie nicht sicher waren, ob ihr Passierschein überhaupt zu einer Reaktion auf eine solche Manifestation der Regimetreue berechtigte. Die Einheimischen hingegen reagierten durchweg eindeutig. Einige tippten sich an die Stirn, andere riefen: "Halt's Maul, du Idiot!" Eine Hausfrau von kräftiger Statur, die eine schwere Einkaufstasche trug, setzte diese ab, trat vor Alfons Beil hin und spuckte aufs Pflaster. Beil nahm die Beleidigungen äußerlich gelassen hin und ging, ohne weitere Erklärungen abzugeben, erhobenen Hauptes seiner Wege.

Wenige Tage später erhielt er eine Vorladung in die Normannenstraße: "zur Klärung eines Sachverhalts", wie es in dem amtlichen Schreiben hieß. Das Tonbandprotokoll der Vernehmung Beils ist erhalten geblieben. Hier ein Auszug:
Vernehmer: Sie wissen, warum Sie hier sind?
Beil: Nein. Keine Ahnung.
Vernehmer: Was hatten Sie am letzten Mittwoch um kurz nach 17 Uhr auf dem Alexanderplatz zu schaffen?
Beil: Ich kam von der Arbeit und war auf dem Weg zur S-Bahn.
Vernehmer: Und warum sind Sie nicht schnurstracks zur S-Bahn gegangen, sondern haben sich mitten auf den Platz gestellt und mehrmals gerufen: Es lebe der Staatsratsvorsitzende! Es lebe der Genosse Erich Honecker!
Beil: Als ich mich auf dem Platz umsah und ringsherum die imposanten Zeichen des sozialistischen Aufbaus erblickte, wurde ich von Dankbarkeit übermannt und rief aus: Es lebe …
Vernehmer: Wir wissen, was Sie gerufen haben. Uns interessiert, in welcher Absicht Sie diesen Ausruf taten.
Beil: Absicht? Ich erblickte die imposanten Zeichen des sozialistischen Aufbaus und da wurde ich übermannt …
Vernehmer (schreit): Wollen Sie mich verarschen?
Beil: Nein. Wieso?
Vernehmer: Herr Beil, Sie wissen genauso gut wie ich, dass kein normaler Mensch einfach so, mir nichts, dir nichts den Staatsratsvorsitzenden hochleben lässt!
Beil: Aber wenn man ringsherum die imposanten Zeichen …
Vernehmer: Raus! Raus!! Raus!!!

Als zwei Wochen später vor dem Konsum auf dem Boxhagener Platz in Friedrichshain zwei junge Leute mit auffällig langen Haaren ein Transparent entfalteten, auf dem zu lesen stand: Fortschritt hat einen Namen: SED, fielen die Reaktionen der Passanten noch heftiger aus. Ein Hagel von Wurfgeschossen traf die beiden jungen Männer, das Transparent wurde ihnen aus den Händen gerissen und zerfetzt. Drei Bauarbeiter, die in der Nähe das brüchige Trottoir reparierten, ließen ihr Werkzeug fallen, kamen drohend näher und hätten die jungen Leute womöglich verprügelt, wenn diese nicht eilig in Richtung Seumestraße davongelaufen wären.

im Falter, der nun auch auf die beiden Langhaarigen angesetzt wurde, vermutete sogleich einen Zusammenhang zu der Aktion auf dem Alexanderplatz. Die Gruppe Loblied war geboren und geistert seitdem durch die Akten des MfS. Lückenlose Observierung der Gruppenmitglieder wurde angeordnet, ihre Wohnungen wurden verwanzt, das Umfeld mit äußerster Akribie ausgeleuchtet. Aber die über Monate gesammelten Erkenntnisse ergaben kein klares Bild. Eine Kontaktaufnahme des Beil mit den beiden anderen Gruppenmitgliedern konnte, wie den Spitzelberichten zu entnehmen ist, bis zuletzt nicht festgestellt werden. Einmal allerdings war Beil tatsächlich mit dem Fahrrad bis in die Nähe des Boxhagener Platzes gefahren, um im Hinterhaus der Wühlischstraße Nr. 46 bei einem alten Herrn eine in Kupfer gestochene Ansicht von Alt-Köpenick aus dem Erbe seiner Mutter gegen eine Mundharmonika einzutauschen. "Es kann nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden", schreibt im Falter in seinem Bericht, "dass B. bei dieser Gelegenheit über den Hinterhof hinweg Sichtkontakt mit den beiden anderen Zielpersonen in der Seumestraße aufgenommen hat!"

Im Herbst 1988 schließlich wurde Alfons Beil verhaftet. Der Zugriff erfolgte, nachdem er auf dem Heimweg von der Arbeit in der überfüllten S-Bahn Richtung Köpenick in einer kleinen improvisierten Ansprache die Überlegenheit des sozialistischen Systems der ddr an der Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs der Hauptstadt erläutert und als Beleg für seine These die Tatsache angeführt hatte, dass sich Tag für Tag weit mehr Menschen in der S-Bahn aufhielten, als Sitzplätze vorhanden waren. Beils Rede löste einen Wutausbruch unter den Fahrgästen aus. Er wurde bespuckt und mit Faustschlägen traktiert und schließlich auf der Station Rummelsburg aus dem Wagen geworfen. Während der Zug seine Fahrt fortsetzte, blieb er benommen auf dem Bahnsteig liegen.

Als Beil wieder zu sich kam, sah er über sich zwei Beamte der Volkspolizei, die mit ernsten Mienen auf ihn hinunterblickten. Er wurde wegen "Rowdytums und Störung des öffentlichen Personennahverkehrs" festgenommen, dann aber auf Anweisung übergeordneter Stellen der Stasi übergeben. Ein knappes halbes Jahr verbrachte er im Gefängnis Hohenschönhausen, wurde weitere dreimal ausführlich verhört, ohne dass Erkenntnisse zutage traten, die über die im ersten Verhör gewonnenen hinausgingen. Ende Mai 1989 wurde er dann, vermutlich auf Anweisung Erich Honeckers selbst, plötzlich entlassen. Er ging wieder zur Arbeit, den Kollegen erzählte er, was die Betriebsleitung ihm nahegelegt hatte: Er sei längere Zeit im Krankenhaus gewesen, nun aber wieder voll hergestellt.

Einige Monate lang hatte man in der Normannenstraße den Eindruck, die Gruppe Loblied habe ihre Aktivitäten eingestellt. Dann aber, Anfang September, wurde aus Leipzig gemeldet, dass dort eine Gruppe Sportstudenten mit einem Transparent durch die Straßen gelaufen sei, auf dem der soeben vom Staatsratsvorsitzenden zu neuem Leben erweckte Spruch zu lesen stand: "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf." Mitarbeiter des MfS, so heißt es im Bericht, hätten sofort die Verfolgung der Gruppe aufgenommen und versucht, des Transparents habhaft zu werden. Dies sei aber nicht gelungen, weil die durchtrainierten Störer den Ordnungskräften an Schnelligkeit und Ausdauer überlegen gewesen seien. "Auffällig ist", heißt es in einer späteren Lageanalyse der Leipziger Stasi-Zentrale, "dass die Teilnehmerzahl bei den sogenannten Montagsdemonstrationen nach diesem Zwischenfall sprunghaft zugenommen hat."

Erich Mielke, der mit der Entlassung Beils gar nicht einverstanden gewesen war, brachte den Fall der Gruppe Loblied in der Krisensitzung des Politbüros am17. Oktober 1989 zur Sprache. Die Haftentlassung des Kopfes der Gruppe, so Mielke, sei ein schwerer Fehler gewesen, der überall im Land oppositionelle Aktivitäten ermuntert habe. Um eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern, müssten hier und heute einschneidende - hier machte der Redner eine effektvolle Pause - Veränderungen beschlossen werden. Offiziell hieß es am nächsten Tag im Neuen Deutschland zwar, Erich Honecker sei "aus gesundheitlichen Gründen" vom Amt des Staatsratsvorsitzenden und des Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrats zurückgetreten. Wenn aber stimmt, was das Politbüromitglied Walter Schabowski später einem Journalisten des spiegel anvertraut haben soll, war die Rolle, die Honecker bei der Haftentlassung Alfons Beils gespielt hatte, entscheidend für seinen Rücktritt.

Nach ihm vorliegenden Erkenntnissen, habe Erich Mielke in der Sitzung des Politbüros gesagt, hätten es die Sicherheitsorgane des Staates seit einiger Zeit mit einer völlig neuen Form der Subversion zu tun. In dieser veränderten Kampfsituation müsse in Erwägung gezogen werden, dass auch Sätze wie "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf" objektiv der Unterhöhlung des Systems der ddr Vorschub leisteten. Daraufhin, so Schabowski, habe sogar Honecker selbst für seine Ablösung gestimmt.

Wie es weiterging mit der ddr, wissen wir. Auch die vermeintliche Verjüngung der Regierungsmannschaft durch die Wahl des früh vergreisten Egon Krenz zum Nachfolger Erich Honeckers konnte nicht verhindern, dass die Dinge für die sed-Gerontokraten um Mielke und Schabowski immer mehr ins Rutschen kamen. Am 9. November zog Günter Schabowski schließlich auf einer Pressekonferenz einen Zettel aus der Jackentasche und las, offenbar zum eigenen Erstaunen, was er sich kurz zuvor bei einer Besprechung im engsten Führungszirkel als Beschluss notiert hatte: "Visa zur ständigen Ausreise sind unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen." Weil er die Botschaft auf seinem Zettel laut und vor zahlreichen Mikrophonen vorlas, verbreitete sie sich in Windeseile. Noch in derselben Nacht zerbröckelte der antiimperialistische Schutzwall in Berlin und mit ihm in der Folge die ganze ddr.

Alfons Beil aber setzte sich wenige Tage später am Bahnhof Zoo in einen Zug und fuhr zu Verwandten ins bayerische Straubing. Hier lernte er Anfang des neuen Jahrtausends die Tochter eines ortsansässigen Elektromeisters kennen, heiratete sie und übernahm einige Jahre darauf den kleinen Betrieb des Schwiegervaters. Einmal, im Jahr 2003, besuchte er eine Wahlkundgebung der csu in der Stadt, weil sein Schwiegervater ihm erklärt hatte, dass er als künftiger Mittelständler es sich nicht leisten könne, dieser Veranstaltung fernzubleiben.

Als der Ministerpräsident nach den Begrüßungsworten des lokalen Abgeordneten ans Rednerpult trat, sprang Beil von seinem Sitz in einer der hinteren Reihen auf und rief mit lauter Stimme: "Hoch lebe der Ministerpräsident! Hoch lebe Edmund Stoiber!" Was dann geschah, muss ihn zutiefst irritiert haben. Rundum im ganzen Zelt sprangen alle Menschen auf und riefen ebenfalls: "Hoch lebe der Ministerpräsident! Hoch lebe Edmund Stoiber!" Beil aber, als er sich von seinem Schrecken ein wenig erholt hatte, stahl sich aus dem Zelt und ist seitdem nicht mehr als Hochrufer hervorgetreten.

Die Geschichte ist dem Band "Kolumbus kam nur bis Hannibal - vierzehn subversive Geschichten" (ISBN 978-3-424-35043-2) entnommen, der im Diederichs-Verlag erschienen ist.

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Autor*in
Johano Strasser

ist Politologe, Schriftsteller und Publizist. Von 1970 bis 1975 war er stellvertredender Bundesvorsitzender der Jusos und einer ihrer wichtigsten Vordenker. Ab 1995 war er Generalsekretär des deutschen PEN-Clubs und von 2002 bis 2013 dessen Präsident.

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