Kultur

Der verwirrende Ehrengast

von Ruth Keen · 12. Oktober 2009
placeholder

Wie eigenartig, dass die Gegenwartsliteratur eines Landes, das nach den USA und Großbritannien die meisten Bücher druckt und als bevölkerungsreichstes der Erde über die größte Zahl an Lesern verfügt, bei uns weitgehend unbekannt ist. Unser Chinabild ist immer noch geprägt von den klassischen Romanen in der blumigen Übersetzung Franz Kuhns, "aktualisiert" durch das eine oder andere "Shanghai-Baby". Die Frankfurter Buchmesse 2009 soll nun diese Lücke schließen und uns ermöglichen, über die Literatur die Facetten des gesellschaftlichen Wandels im rasanten chinesischen Entwicklungsprozess kennenzulernen. Ob das gelingt?


Als im September die chinesische Delegation während des Frankfurter Symposiums "China und die Welt" geschlossen den Saal verließ, weil zwei Dissidenten das Wort ergriffen, offenbarten sich schon im Vorfeld die Empfindlichkeiten des offiziellen China. Der Ehrengast verbittet sich die unhöflichen Hinweise auf die katastrophale Menschenrechtssituation in seinem Land. Doch auch tibetische und uigurische Autoren wollen sich mit ihren Anliegen auf der Messe präsentieren, und der deutsche P.E.N. wird gemeinsam mit dem unabhängigen chinesischen P.E.N. (Halle 3.1, L 672) über Autoren und Menschenrechtler informieren, die wie Liu Xiaobo, Mitunterzeichner der "Charta 08", zur Zeit ohne Anklageschrift und unter prekären Bedingungen in chinesischen Gefängnissen sitzen. Seit dem Ende der 70er Jahre fordern Regimekritiker eine Demokratisierung ihres sozialistischen Wirtschaftswunderlands.

Wirkliche Offenheit nur im Exil

Die aus der Volksrepublik China anreisenden Schriftsteller haben gelernt, sich mit der Schizophrenie eines kapitalistischen Systems mit kommunistischem Überbau zu arrangieren. Sie berichten zuweilen erstaunlich offen über Korruption und andere Missstände in ihrem Land, eine echte Gratwanderung angesichts der herrschenden Zensur, die vor allem bei den "drei T" - Taiwan, Tibet, Tian'anmen - keine Gnade kennt. Diese Themen meidet man von sich aus. Wer sie aufgreift, lebt meistens im Exil. So auch Ma Jian (London), dessen "Peking-Koma" um die Ereignisse des Vierten Juni 1989 kreist. Sein Protagonist wird am Tag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens von einer Kugel erfasst und liegt seitdem in einem Wachkoma; in einem Bewusstseinsstrom aus Erinnerungen und passiver Wahrnehmung des aufstrebenden Landes entfaltet sich ein Kaleidoskop der chinesischen Gesellschaft in ihrer jüngsten Geschichte - für mich der authentischste und spannendste unter den neuen Romanen. Ein ähnlich weites Panorama steckt auch Mo Yans "Der Überdruss" ab, das aus der Perspektive eines in mehreren Tiergestalten wiedergeborenen Helden stilistisch fulminant von den politischen Umbrüchen der letzten fünfzig Jahre erzählt.

Mo Yan gilt als kritischer und auch als einer der wichtigsten etablierten Vertreter der mittleren, zwischen 1950 und 1965 geborenen Schriftstellergeneration der Volksrepublik; er erlangte durch die Verfilmung seiner Werke "Das rote Kornfeld" und "Lebewohl, meine Konkubi­­ne" Weltruhm. Seinen Schilderungen ist nichts Menschliches fremd - sie bestechen durch deftige Anschaulichkeit. Letzteres gilt auch für den unterhaltsamen Liebesroman " Dem Volke dienen" von Yan Lianke (das Buch wurde in China wegen seiner Respektlosigkeit gegenüber dem "heiligen" Mao verboten, ebenso wie Yans jüngstes Werk über einen Aids-Skandal, "Der Traum meines Großvaters") und nicht minder für das große Epos "Brüder" von Yu Hua. Die neuen chinesischen Romane sind so drastisch, dass man ihnen die Schere im Kopf kaum anmerkt.

Unerreichte Blütezeit

Welch weiten Weg China noch vor sich hat, zeigt die Literatur der Republikzeit, die zwischen 1911 und 1942 die Blütezeit der Moderne darstellt und deren literarisches Niveau nach dem Kahlschlag der Kulturrevolution erst noch wiedererlangt werden muss. Ohnehin liegt uns West­-lern diese vom angelsächsisch-psychologischen Roman inspirierte Literatur näher, wie sie z.B. die Auswahl von Eileen Changs Erzählungen bietet, die nun das erste Mal in einer Sammlung vorliegen und deren Titelgeschichte "Gefahr und Begierde" Ang Lee 2007 verfilmt hatte. Mit ähnlicher Raffinesse und Ironie porträtierte Qian Zhongshu in seinem Roman "Die umzingelte Festung" die innere Befindlichkeit einer dekadenten Übergangsgesellschaft. Wer verstehen will, aus welcher Rückständigkeit heraus sich China im letzten Jahrhundert entwickelt hat, muss Lu Xun und Xiao Hong gelesen haben.

Deutschen Lesern wird es Mühe machen, Namen wie Ma Jian und Mo Yan auseinanderzuhalten. Das lässt sich ändern, wenn man die beiden und viele andere Autoren in Frankfurt auf Lesungen und Diskussionsveranstaltungen erleben kann. Jedem China-Interessierten sei wenigstens einer der hier aufgeführten Titel ans Herz gelegt, dazu unbedingt die kenntnisreichen Reportagen von Jutta Lietsch und Andreas Lorenz und die brillanten Interviews des Liao Yiwu.

Tradition und Innovation. Neue Literatur aus China: Ma Jian: Peking-Koma
Die dramatischen Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens
Roman. Übersetzt von Susanne Höbel, Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 928 Seiten, 24,90 Euro,
ISBN 978-3498032326

Mo Yan: Der Überdruss
Ein mehrfach Wiedergeborener schildert die politischen Umbrüche
Roman. Übersetzt von Martina Hasse, Horlemann Verlag, Unkel 2009, 812 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 978-3895022722

Mo Yan: Die Sandelholzstrafe
Die Geschichte eines Henkers im China der Kolonialzeit
Historischer Roman. Übersetzt von Karin Betz, Insel Verlag, Frankfurt 2009, 650 Seiten, 29,90 Euro,
ISBN 978-3458174462

Yan Lianke: Der Traum meines Großvaters. Ein wahrer Fall: Dorfbewohner spenden Blut und bekommen Aids
Roman. Übersetzt von Ulrich Kautz, Ullstein Verlag, Berlin 2009, 368 Seiten, 22,90 Euro,
ISBN 978-3550087493

Yan Lianke: Dem Volke dienen
Verbotene Liebe in revolutionären Zeiten
Roman. Übersetzt von Ulrich Kautz, List Verlag, Berlin 2009, 205 Seiten, 8,95 Euro,
ISBN 978-3548609096

Eileen Chang: Gefahr und Begierde
Moderne Zeiten: Shanghai und Hongkong der 40er Jahre
Erzählungen: Übersetzt von Susanne Hornfeck, Wang Jue und Wolf Baus, List Verlag, Berlin 2009, 256 Seiten, 8,95 Euro, ISBN 978-3548609171

Yu Hua: Brüder
Zwei ungleiche Brüder und ihr Weg von der Kulturrevolution zum Kapitalismus
Roman. Übersetzt von Ulrich Kautz, Fischer Verlag, Frankfurt 2009, 768 Seiten, 24,95 Euro,
ISBN 978-3100958037

Qian Zhongshu: Die umzingelte Festung
Gesellschaftsroman über einen liebenswerten Hochstapler
Übersetzt von Monika Motsch, Verlag SchirmerGraf, München 2008, 544 Seiten, 25,80 Euro, ISBN 978-3865550590

Lu Xun: Das trunkene Land
Die Meistererzählungen vom Wegbereiter der chinesischen Moderne
Übersetzt von Raoul Findeisen, Wolfgang Kubin und Florian Reissinger; Unionsverlag, Zürich 2009, Erzählungen, 250 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3293004085

Xiao Hong: Geschichten vom Hulanfluss
Eine Kleinstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts'
Autobiografischer Kindheitsroman. Übersetzt von Ruth Keen, Inselverlag, Frankfurt 2009 (Erstauflage 1990), 287 Seiten, 22,80 Euro, ISBN 978-345860991

Jutta Lietsch, Andreas Lorenz: Das andere China
Begegnungen in Zeiten des Aufbruchs; Reportagen vor Ort - Die Realitäten des Wirtschaftsbooms, Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 2007, 287 Seiten, 19,90 Euro; ISBN 978-3937989303

Liao Yiwu: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser: Chinas Gesellschaft von unten.
Reportagen über Randfiguren der chinesischen Gesellschaft, Übersetzt von Karin Betz, Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenriede, Fischer Verlag, Frankfurt 2009, 539 Seiten, 22,95 Euro,
ISBN 978-9100448125

Autor*in
Ruth Keen

Ruth Keen, Literaturübersetzerin, Sinologin und Journalistin. Ihr wurde der C.H. Beck-Übersetzerpreis in der Kategorie Sachbuch verliehen.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare