Der Dokumentarfilm des britischen Philosophen Jason Barker (am 11. April um 23.20 Uhr auf Arte) kreist um die Frage, ob sich mit Marx die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise erklären lässt. Zeigt sein Oeuvre gar Lösungen auf? Trotz der unterhaltsam aufbereiteten Wirkungsgeschichte des Epochenwerks "Das Kapital" ist der Erkenntnisgewinn überschaubar.
Das lässt sich über weite Strecken auch von der Diskussion nach der Vorabpremiere in Berlin sagen. Dennoch wurden einige Denkanstöße verbucht. Zum Beispiel: Wie würde es Marx mit der Atomindustrie halten? Doch bis zu diesem Moment brauchte es viel, viel Geduld.
Märkte als Monster
Kapitalismuskritik hat Konjunktur. Nach diversen Banken-Crashs haben sogar konservative Politiker Kreide gefressen. Ein ehemaliger Bundespräsident bezeichnete deregulierte Märkte als
"Monster". Doch kann in den reichen Ländern des Nordens und Westens noch von einer zu überwindenden Ausbeutung proletarischer Massen im Sinne von Marx die Rede sein?
Damit befassten sich die Professoren Herfried Münkler (Berlin) und Micha Brumlik (Frankfurt am Main) auf der Studio-Bühne im Maxim Gorki Theater. Passend zum eher essayistisch als analythisch angelegten Film, der die Marxsche Theorie vom Fetisch Ware ins Zentrum rückt und prominenten Deutern wie Slavoj Ži žek ("Die Ideologie der Ausbeutung hat ausgedient") und eben auch Münkler und Brumlik reichlich Raum lässt, atmete die Debatte das Flair eines akademischen Kolloqiums. Anstelle von pointierten Argumenten wurden meist ausufernde Reflektionen mit teils fragwürdiger Tendenz präsentiert.
So ließ sich der Politikwissenschaftler Münkler zu der Äußerung hinreißen, Ausbeutung beruhe auf "sinnhafter Evidenz", worunter vor allem rückständige, aber auf Proftitmaximierung ausgerichtete Arbeitsbedingungen zu verstehen seien. Demnach herrscht in den Jeansfabriken von Bangladesch sehr wohl Ausbeutung, während unterbezahlte Angestellte privater Briefzusteller in Deutschland einfach nur Pech haben. Ein bemerkenswertes Gesellschaftsbild!
Empfundene Ungerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit
Immerhin erklärte Brumlik, dass Tarifkonflikte zumindest von einer empfundenen Ungerechtigkeit zeugen, weil die Betroffenen, gemessen an ihrem Einkommen, die Preise für einige Güter als zu
hoch empfinden. Was wiederum auf den von Barker aufgegriffenen Kern Marxscher Kapitalismuskritik verweist: Dass Unternehmer die Differenz zwischen den Preisen ihrer Produkte und den Lohnkosten
der Arbeiter ausbeuten, also Gewinn erwirtschaften.
Bei der Frage, ob sich aus der in den Wohlstandsgesellschaften zunehmenden Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen Gegebenheiten neue politische Bewegungen formieren lassen, kam der Dialog in Gang. Brumlik kanzelte jene Forderung der Neomarxisten als Nostalgie ab: "Es blubbert hier und dort, aber die vereinzelten Proteste lassen sich nicht steuern." Wohl aber müsse ein Produktionsprozess, der Bedürfnisse erst weckt und anschließend auf Kosten der Ressourcen befriedigt, gestoppt werden.
An dieser Stelle warb Münkler, der Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe ist, dafür, Marx neu zu entdecken. Nämlich als einen frühen Propagandisten von ökologischer Nachhaltigkeit. So habe der "alte" Marx die Ausbeutung der Natur angeprangert und einen sorgsamen Umgang mit begrenzten Rohstoffen angemahnt. Münkler: "Der grüne Marx ist ein Novum!"
Wir haben das Recht auf einen unverstrahlten Pazifik
Weniger gab Münkler auf die revolutionäre Substanz in dessen politischer Ökonomie. Aufgelöste Klassengegensätze seien dafür verantwortlich, dass der Frust über unfaires Wirtschaften
verpufft. Anders als im 19. Jahrhundert seien die Entrechteten von heute die Arbeitslosen. Um ihre Situation zu verbessern, würden sie alles dafür tun, wieder Teil des Produktionsprozesses zu
sein. Zugespitzt gesagt: Die Ausgebeuteten gieren danach, wieder ausgebeutet zu werden.
Zudem hätte es sich ein Großteil des Bürgertums im Bionade-Biedermeier gemütlich gemacht, anstatt eine geschlossene Front der Bourgeoisie zu bilden, die für wirtschaftsliberale Werte streitet.
Hat diese Ideologie angesichts kollabierender Finanzmärkte überhaupt eine Zukunft? An diesem Punkt ließ Münkler so etwas wie Gesellschaftskritik aufblitzen. "Die Forderung nach weiteren Privatisierungen ist den Neoliberalen während der Winterpannen bei der Bahn auf die Füße gefallen", donnerte erin den voll besetzten Saal. Von da war es nicht weit bis zur aktuellen Frage, die Münkler aufwarf: "Wer sorgt für einen unverstrahlten Pazifik als Gemeingut, auf das jeder ein Recht hat?"
Eine intakte Umwelt als kollektives Eigentum: Spätestens jetzt wurde deutlich, warum die Beschäftigung mit Marx immer auch etwas mit unserer Gegenwart zu tun hat. Je undogmatischer wir ihn lesen, desto besser!