"Ich weiß nicht, wann wir jemals so dringend einen starken Präsidenten gebraucht haben wie jetzt," sagt Bernadette Jean, die in einem der 1.300 Obdachlosencamps des Landes lebt, seit das
Erdbeben im Januar ihr Haus und Hof genommen hat.
Denn auch ein Jahr nach der schweren Naturkatastrophe liegt der karibische Inselstaat noch am Boden. Mehr als eine Million Menschen leben in Lagern, nur etwa zwei Prozent der
internationalen Hilfsgelder sind ausgezahlt worden. Die Cholera-Seuche hat die Hauptstadt Port-au-Prince erreicht und etwa 1.600 Menschenleben gefordert. Die Regierung kann die Arbeit der
zahlreichen Hilfsorganisationen nicht koordinieren. Der Oberste Gerichtshof, das Parlamentsgebäude und fast alle Ministerien liegen weiterhin in Trümmern und selbst der Präsidentenpalast ist noch
nicht wieder aufgebaut.
50 Jahre verloren
Und doch haben sich 19 Kandidaten als neue Mieter beworben. "Die Menschen wissen nicht, wem sie ihre Stimme geben sollen und vor allem nicht warum," sagt Bernadette Jean, "das Vertrauen in
die Wahlen ist äußerst gering." Lediglich die internationale Gemeinschaft, allen voran die Vereinten Nationen und die USA, hatte auf zügige Wahlen gedrängt. Immer wieder hatten haitianische
Präsidenten Wahlen verschoben, um sich an der Macht zu halten und die Verfassung geändert, um sich wiederwählen zu lassen. Zudem sind die Aufgaben in Haiti so groß, dass eine demokratisch
legitimierte Regierung genügend Rückhalt finden soll, um das Steuer auf der geplagten Insel herumreißen zu können.
"Wir haben in Haiti 50 Jahre verloren, die mehr als 50 Prozent Arbeitslosigkeit und Analphabetismus gebracht haben. Wir brauchen dringend Veränderung," sagt Adlin Pierre, Arzt aus Cap
Haitien, "wir können nun Politiker wählen, die weniger korrupt sind. Das weiter zu verschieben, wäre falsch."
Pierre gab seine Stimme der Kandidatin mit den größten Chancen auf einen Wahlsieg: Mirlande Manigat. Die ehemalige First Lady erzielte bei Umfragen etwa 36 Prozent der Stimmen und sucht den
Kontakt zum Volk. Ihr größter Konkurrent - und Ziehsohn des noch amtierenden Präsidenten - ist Jude Célestin, ein 48-Jähriger Ingenieur, der seit Januar mit dem Wiederaufbau des Landes beauftragt
ist.
Von schwierigen Bedingungen...
Die Vereinten Nationen hatten vor wenigen Monaten geprüft, ob so umfangreiche Wahlen in Haiti überhaupt möglich sind. Sie hatten neue Wähler registriert, Wahlausweise ersetzt und erneuert,
Orte für Wahlzentren wiederaufgebaut und die Abläufe der Stimmabgabe geprobt. "Die Rahmenbedingungen für die Wahlen waren uns klar," sagt Edmond Mulet, Leiter der Stabilisierungsmission der
Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH), "aber alles ist auf dem richtigen Weg." Etwa 3.200 Polizisten der Vereinten Nationen, 4.500 haitianische Polizisten und 4.200 Sicherheitskräfte hatten die
Wahlen abgesichert.
"An einigen Orten kam es dennoch zu Überfällen, Banditen schlossen Wahlzentren, gaben Schüsse ab und warfen Steine," sagt Pierre Opont, Direktor der Unabhängigen Wahlkommission (CEP). An
anderen Orten sollen die Urnen vorab mit gefälschten Listen gefüllt, unliebsame Wähler eingeschüchtert und zahlreiche Haitianer aus dem Register gelöscht worden sein. Noch immer sollen
Zehntausende Opfer des Erdbebens auf den Wahllisten gestanden haben. "Insgesamt aber gehe ich davon aus, dass die Abweichungen nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen," sagt Opont.
..und Manipulationen
Von den neunzehn Präsidentschaftskandidaten haben unterdessen 12 ihre Kandidatur bereits zurückgezogen - unter ihnen Favoritin Mirlande Manigat. "Wir wenden uns vor dem haitianischen Volk,
vor den Medien und der internationalen Gemeinschaft gegen die massiven Manipulationen, zu denen es im ganzen Land bei den Wahlen gekommen ist," erklärten sie gestern in einem Hotel in der
Hauptstadt, "wir fordern die Annulierung dieser gefälschten Wahlen." Vor allem aber wenden sie sich gegen den noch amtierenden Präsidenten René Préval, dem sie zu große Nähe zur Unabhängigen
Wahlkommission vorwerfen und dass er die größte Oppositionspartei, die Fanmi Lavalas, einfach von der Liste gelöscht hat.
"Den Politikern geht es doch nur um die internationale Aufmerksamkeit," sagt Martine Angrand Keith, Hausfrau aus Jacmel. Immerhin warten etwa 5 Milliarden Euro Hilfsgelder, die die
internationale Gemeinschaft, allen voran die Vereinigten Staatenvon Amerika und die Europäische Union, dem Land nach dem verheerenden Erdbeben versprochen haben. Und für die sie nun eine starke
neue Regierung wählen lassen wollen.
Die Wahlen haben das gebeutelte Land jedoch erst einmal geschwächt. Entlang der politischen Parteien kam es immer wieder zu Gewalt, viele Menschen blieben aus Furcht vor Übergriffen und der
Cholera den Wahlzentren fern. Die Beobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gehen lediglich von einer Beteiligung von 40 Prozent aus.
Bis zum 5. Dezember sollen alle Stimmen ausgezählt sein. Kann keiner der Präsidentschaftskandidaten mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen, soll am 16. Januar zu Stichwahlen
kommen. "Die Wahlen sind gar nicht meine Hauptsorge," sagt Patrice Talleyrand aus der Stadt Jacmel, "die Cholera ist im Moment unsere größte Herausforderung."
arbeitet als freier Autor mit Schwerpunkt Afrika, Lateinamerika und Naher Osten.