In einer aktuellen Infratest-Umfrage im Auftrag des DGB forderten 92 Prozent der Befragten Maßnahmen gegen die wachsende Ungleichheit innerhalb der europäischen Union. 89 Prozent erklärten,
dass es in Europa vergleichbare soziale Standards geben müsse und 90 Prozent forderten von der Politik eine Untergrenze für Mindeststeuersätze für Unternehmen. Für den Chef des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, ein Beweis dafür, dass die Menschen ein soziales Europa wollen.
Sozial statt neoliberal
Seit zehn und mehr Jahren stünde der Sozialstaat in Deutschland unter "neoliberalem Dauerbeschuss". Arbeit die arm macht sei eine Folge dieser Entwicklung. Gleichzeitig gebe es Länder wie
Dänemark, Schweden oder die Niederlande, die trotz hoher Wettbewerbsfähigkeit hohe soziale Standards vorweisen können. Nicht der Wettlauf um die niedrigsten Löhne und sozialen Standards dürfe das
Europa der Zukunft bestimmen, sondern vielmehr gelte es "voneinander zu lernen", um "Europa sozial zu gestalten". Unter diesem Motto diskutierten über 600 Gewerkschafter, Wissenschaftler,
Politiker, Kirchen- und Verbandsvertreter auf einem Kongress der Hans Böckler Stiftung des DGB, wie das Sozialstaatsprinzip in Europa zukunftsfest gemacht werden kann.
Kein Wettrennen um niedrige Standards
Das wachsende soziale Ungleichgewicht in Europa kritisierte auch der Vorsitzende der europäischen Sozialdemokraten, Paul Nyrup Rasmussen. Derzeit lebten rund 72 der 487 Millionen EU-Bürger in
Armut oder seien davon bedroht. Parallel dazu steige die "Arroganz und Gier der Reichen". Einkommensgewinne der Unternehmen und das Einkommen von Lohnarbeit gingen immer weiter auseinander. Dabei
sei klar: Ein Wettrennen um die niedrigsten Standards dürfe es in Europa nicht geben.
New Deal für Europa
Stattdessen plädierte Rasmussen für einen New Deal für Europa. Man brauche eine gemeinsame Richtung. Europa müsse auf Qualifikation setzen und nicht auf billige Arbeitskräfte. Sein Vorschlag:
Jeder EU-Finanzminister sollte in den kommenden vier Jahren ein Prozent des Sozialproduktes zusätzlich in Bildung, Forschung und Kinderbetreuung investieren. Damit könnten in Europa vier bis fünf
Millionen neue Jobs geschaffen werden. Europa dürfe nicht mit "Indien oder China um die niedrigsten Löhne konkurrieren, sondern um die bessere Qualifikation."
Grenzen der Globalisierung
Mit dem Totschlagargument Globalisierung werden seit Jahren Sozialabbau und Lohnrückhaltung als Instrumente gerechtfertigt, um den eigenen Wirtschaftsstandort wettbewerbsfähig zu halten. Mit
dem Verweis auf die billigen Arbeitskräfte Osteuropas wird die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschlands verhindert und die "Spirale nach unten" weitergedreht. Gegner des
Mindestlohns wie der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesinnenministerium, Peter Altmaier (CDU), argumentieren mit vermeintlicher Rücksicht auf kleine und mittelständische Unternehmen, die
bereits heute nur wirtschaften können, wenn sie Niedriglöhne auf osteuropäischem Niveau auch in Deutschland zahlen. Einen Mindestlohn könnten diese Unternehmen nicht zahlen.
Strukturen der Räuberei beseitigen
Aber wo sind die Grenzen dieser Entwicklung, wenn nicht Politik sie setzt? Kinderarbeit in Bangladesh wird immer billiger sein als die Arbeit Erwachsener in Europa, mahnte Franz Kamphausen,
Mitglied des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz und erhielt Unterstützung von Präses Nikolaus Schneider, Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche. Die Würde des Menschen sei nicht
gleichzusetzen mit seiner Verwertbarkeit. "Für Reichtum muss es ein Maß geben und für Armut eine Grenze." Der katholische Bischof Kamphausen ging noch einen Schritt weiter: Barmherzigkeit sei gut,
sagte er, aber es gehe darum, "die Strukturen der Räuberei zu beseitigen."
Funktioniert die Marktwirtschaft noch?
Gustav Horn, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, sprach von einem Politikversagen. "Unternehmen machen nur ihren Job," so Horn. "Das Problem sei, dass die
Politik den Unternehmen keine Grenzen setzt." Betriebe dürften keinen Gewinn machen, weil sie Lohndumping betreiben. Aus diesem Grund brauche Deutschland unbedingt einen Mindestlohn, der den
westlichen Nachbarländern wie Frankreich, England und den Niederlanden entspricht. Andernfalls mache Deutschland mit seiner seit mehr als zehn Jahren anhaltenden Lohnrückhaltung diesen Ländern
Konkurrenz durch billige Arbeitskräfte. Der ehemalige CDU-Bundesarbeitsminister Norbert Blüm stimmte zu: Es dürfe kein Wettbewerbsvorteil sein, wenn Arbeitsstandards abgeschafft würden. Die Politik
müsse aufpassen, dass der Staat nicht ausgebeutet wird, so Blüm. "Wenn man von seinem Lohn nicht leben könne, funktioniere die Marktwirtschaft nicht."
Wo bleibt das Soziale?
Der langjährige Sozialexperte der SPD, Rudolf Dreßler, brachte die Debatte um die Machtfrage auf den Punkt: "Warum, fragte er, "findet Hundt seine Mehrheiten in der Politik."
Weiter Informationen:
Kongress-Materialien gibt es unter
www.dgb.de
hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.