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„Wir müssen vollkommen umdenken“

von ohne Autor · 16. Februar 2011
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Höchst kurzfristig nur hatte Klaus Staeck, der Präsident der Akademie der Künste in Berlin, eingeladen, die hohe Promidichte der Berlinale nutzend. Und: Sein Ruf wurde gehört. Manchmal sind die bemerkenswertesten Veranstaltungen solche, die nicht lange vorbereitet wurden.

"Wir sind eine müde Demokratie," erklärt sich Staeck die Ruhe, ja fast Gleichgültigkeit, mit der die Deutschen zuschauten, wie sich in Nordafrika ein Umbruch ereignete, der mit dem Fall der Berliner Mauer doch durchaus zu vergleichen sei. Immerhin: Staeck gibt keine Ruhe, und an diesem Abend des 15. Februar übersprang ein Funke der Freude und Begeisterung und auch des Staunens die 2893 Kilometer Distanz zwischen Berlins Pariser Platz am Brandenburger Tor und dem Tahrir-Platz in Kairo.

Spannung zwischen Hoffnung und Angst
Der Autor und Verleger Khaled Abbas, dessen Verlagsgebäude am Tahrir-Platz sich während der Protestwochen, wie er sagt, in eine Art "Hotel für Demokraten" verwandelt hatte, schilderte eindrucksvoll die Spannung zwischen Hoffnung und Angst während der kritischen Tage. Während der Tage, als niemand wusste: Was macht die Armee? "Es wurden keine Gehälter ausgezahlt, es gab kein Benzin, kein Brot, die Banken waren geschlossen. Wir hatten das Gefühl, der Westen ist gegen uns, die Armee, und jetzt wenden sich auch die Leute gegen uns."

Es ist bekanntlich anders gekommen, und allen, die frisch aus Kairo nach Berlin geflogen sind oder per Skype zugeschaltet wurden, sind noch so spürbar erfüllt von Euphorie, dass sich ihre Freude drahtlos auf ihre Zuhörer überträgt. Einige im überfüllten Saal sind so hin und weg, dass gar der Vorschlag aufkommt, auf dem Ernst-Reuter-Platz spontan Zelte aufzuschlagen, aus Solidarität mit den ägyptischen Demonstranten. Dazu ist es dann doch nicht gekommen, schon der Berliner Eiseskälte wegen.

Das alte Propagandabild
Rationalere Vorschläge kommen von Volker Schlöndorff und Volker Perthes, dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Regisseur Schlöndorff prangert die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union an - und namentlich Kanzlerin Angela Merkel: "Es ist eine Schande, dass sie von den tunesischen Flüchtlingen niemanden aufnehmen will." Da wirke eben das alte Propagandabild fort, das den Westen verleitet habe, allzu lange Diktatoren wie Mubarak zu unterstützen, aus Angst vor Islamisten und um einer vermeintlichen Stabilität willen. Schlöndorff: "Wir müssen vollkommen umdenken."

"Man hat gedacht, Stagnation sei Stabilität", analysiert Perthes das Fehlverhalten des Westens, "aber Stabilität braucht Dynamik". Am schlimmsten seien die Ratingagenturen, die Tunesiens Kreditwürdigkeit nach dem Sturz des Diktator Ben-Ali abgewertet haben.

Hingegen lobt Perthes "das weise Verhalten der ägyptischen Armee", und er wirbt dafür, Regierungen zu verstehen, die nun einmal mit Regierungen zusammenarbeiten müssten. Die Grenze freilich sei immer da zu ziehen, wo man beginne, sich mit korrupten Machthabern gemein zu machen. Leider sei das allzu oft vorgekommen.

Unwissenheit und Ignoranz
Mubarak habe sich aber auch sehr geschickt als den einzigen argestellt, der zwischen dem Westen und einer möglichen islamischen Revolution wie einst in Iran stehe. Der Westen sei einem Zerrbild verfallen gewesen. Perthes: "Meistens kommt falsche Politik nicht aus bösem Willen, sondern aus Ignoranz und Unwissenheit."

Kurz nach der Jahrhundertwende bereits seien die Völker in Nordafrika und dem Nahen Osten einem Umsturz der Regime nahe gewesen, meint Perthes. "Der Irakkrieg hat die Bewegung um zehn Jahre zurück geworfen." Was aber konservative Politiker in den USA nicht davon abhalten werde, die jetzigen Ereignisse als späte Rechtfertigung der Invasion in den Irak darzustellen: "Wir werden es erleben!"

Perthes nennt die überwiegend jungen Menschen, die nun aufgestanden sind gegen Unterdrückung und Stagnation in ihren Ländern, in Anlehnung an 1968 "die 2011er". Diese kollektive Erfahrung des Aufbruchs durch Selbstermutigung werde eine ganze Generation prägen.

Die Kraft der Gewaltlosigkeit

Schlöndorff, mit Blick auf Iran, teilt diese Erwartung: "Das macht doch Hoffnung für alle! Jetzt geht es der nächsten Marionette an den Kragen!" Gemeint ist Irans Präsident Ahmadinedschad.

Ein ägyptischer Gesprächspartner beschreibt die erstaunliche Gewaltlosigkeit der Demonstranten und die Kraft der Erfahrung des "Ich weiß jetzt, dass ich selber auf die Straße gehen und etwas verändern kann." Und zwar ohne dorthin kommandiert worden zu sein und rituell amerikanische Flaggen verbrennen zu müssen. Und sogar ohne die in Kairo allgegenwärtigen Mubarak-Porträts von Masten und Bäumen zu reißen.

Harry Belafonte, per Videoeinspielung zugeschaltet, teilt diese Freude "als Schüler Gandhis und Martin Luther Kings". Der Aufbruch in Nordafrika sei "die größte Bestätigung der Kraft der Gewaltlosigkeit", die er erlebt habe - und er werde demnächst 84 Jahre alt.

Auf einem anderen Video ist zu sehen, wie ein unbewaffneter junger Ägypter sich anrückenden Uniformierten entgegenstellt, allein, die Arme erhoben - und umstandslos niedergeschossen wird. Abgeknallt.

Rund 450 Todesopfer wurden in den Tagen des Protestes gezählt. Dennoch ist er friedlich geblieben.

Karl Marx in Algier
Er habe Angst gehabt vor "noch größerer Gewalt" der Staatsmacht, gibt Mario Adorf zu, der als Schauspieler doch stets Männer darstellt, die Angst nicht zu kennen scheinen.

Sehr gerne, verrät er auf Nachfrage des Moderators Alfred Eichhorn, würde Adorf demnächst in die Rolle Karl Marxens schlüpfen, in einer Verfilmung von dessen letzter Reise. Die habe Marx, "was wenige wissen", nach Algier gebracht und den alten Revolutionstheoretiker heftig beeindruckt. Adorf: "Karl Marx hat sich auch sehr für Ägypten interessiert."

Leider hat Marx dann nicht mehr lange genug gelebt, um vorauszusehen, was sich in diesem Winter in Tunis und Kairo abgespielt hat, wo Macht nicht aus Gewehrläufen kam.

Und übrigens auch nicht ursprünglich aus dem Internet, wie Volker Perthes klarstellt: "Dies ist nicht eine Facebook-Revolution, sondern eine Revolution der Generation, die Facebook benutzt."

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