Wer die SPD dieser Tage von außen betrachtet, gewinnt fast den Eindruck, es mit einem Organismus im Wundstarrkrampf zu tun zu haben. Die Gründe: Sie hat immer noch nicht entschieden, wem sie
eine politische Heimat bieten will. "Ein bisschen Mitte für alle" ist keine Option, denn wohlbetuchte und progressive Wähler wenden sich den Grünen zu - während die von Abkopplung bedrohten
Wähler sich scheinbar lieber gleich einfachen Antworten am rechten oder linken Rand zuwenden.
Wie kann die SPD attraktiver werden? Zunächst muss sie als Organisation das Zuhören wieder erlernen. Das heißt, neue Antworten dürfen der Basis und den Wählern nicht länger von einer
Parteispitze verkündet werden, sondern müssen von der Basis erarbeitet werden und ihren Weg nach oben finden.
Dies gilt auch für neue Gesichter, denn die vorhandene Parteispitze hat sich entweder als Befürworter oder Gegner in den Augen vieler außenstehender Betrachter am Thema Agenda 2010
verbraucht. Die Agenda taugt kaum länger als richtungsweisendes Koordinatensystem der drängenden wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Debatte innerhalb und außerhalb der SPD.
Die SPD braucht einen neuen Willy Brandt und ein neues Godesberger Programm
Das Godesberger Programm und Willy Brandt waren die Garanten des Erfolgs der SPD in den 1970er Jahren. Und auch heute müsste eigentlich wieder gelten: "Mehr Demokratie wagen!" Gerade im
Kontrast zum immer autoritäreren Politikstil der schwarz-gelben Koalition kann es nicht anders sein, als dass eine überwältigende, schweigende Mehrheit sich mehr Demokratie ersehnt. Die Gegner
von Stuttgart 21 geben dieser Sehnsucht ein neues Gesicht.
Dieser Herausforderung kann die SPD am besten gerecht werden, indem sie sich neue Instrumente der Programmdebatte und der Kandidatenfindung schafft, die an die Seite bewährter Verfahren
treten.
Programmdebatte auf neuen Wegen im Internet
Hinter den Begriffen liquid democracy und direkter Parlamentarismus verbergen sich Lösungsansätze, Programmdebatten strukturierter zu führen, als es in herkömmlichen Internetforen der Fall
ist. Meist neigen diese Diskussionsgruppen nämlich dazu, dass sie von einer Sachfrage sehr zügig zu persönlichen Glaubensdebatten einzelner Diskussionsteilnehmer werden.
Das Konzept des direkten Parlamentarismus setzt dagegen Konzepte, in denen sich Gleichgesinnte zu Bündnissen zusammenfinden. Bündnisse sind dabei Parteien vergleichbar und sind ihrerseits
in den Entscheidungsgremien, den so genannten Politikfeldparlamenten, vertreten. Politikfeldparlamente sind jeweils Ressorts zugeordnet, beispielsweise Außenpolitik, Finanzen oder Inneres.
Grundidee ist es, dass jeder Diskussionsteilnehmer pro Politikfeldparlament einem Bündnis beitreten muss. Er bestimmt aber selbst, ob er seine Stimme an ein anderes Bündnismitglied
delegiert, oder sein Stimmrecht mit seiner Einzelstimme direkt im Politikfeldparlament ausübt. (Daher der Begriff der liquid democracy: Stimmrechte können fließend übertragen und jederzeit auch
widerrufen werden). Sämtliche Abstimmungen und Delegiertenschlüssel sind öffentlich einsehbar. Eine Pflicht, mit öffentlichem Klarnamen zu diskutieren, besteht jedoch nicht.
Ergänzend zur Willensbildung in den traditionellen Orts- und Bezirksverbänden lassen sich im Internet ergebnisorientierte Debatten führen und Anträge für Parteitage vorbereiten. Da die
Debatte in Bündnissen und Politikfeldparlamenten frei von geographischen Beschränkungen stattfinden kann, kommt im besten Falle eine kleinere Anzahl besser vorbereiteter Anträge der
Politikfeldparlamente zustande - anstelle vieler ähnlich lautender Anträge aus Ortsverbänden, die von ihren Anträgen gegenseitig im Zweifelsfalle erst auf dem Parteitag erfahren und zwischen
denen dann zeitaufwändig vermittelt werden muss.
Der Vorteil liegt auf der Hand: Neue Ideen und Themen können nun nur mit erheblicher Mühe durch Antragskommissionen oder eine "geschickte Parteitagsregie" vom Parteitag weg auf den Gulag
der Facharbeitsgruppen auf Nimmerwiedersehen verbannt werden.
Wichtig ist und bleibt aber: Bei aller Begeisterung für elektronische Debatten im Internet müssen auch die traditionellen Ortsverbände weiter ein Forum der Diskussion sein, denn alle
Mitglieder - auch solche ohne Internetzugang - müssen Chancengleichheit haben, ihrer Meinung Gehör zu verschaffen.
Neue Gesichter suchen - Regionalkonferenzen und das Casting-Prinzip
Gibt es etwas, das die SPD von privaten Fernsehsendern lernen kann? So unglaublich es klingen mag: Ja. Talentshows gelingt es in sehr kurzer Zeit, aus einer riesigen Bewerberzahl einige
gute herauszufiltern. Da es hier aber nicht darum gehen soll, ein Loblied auf die privaten TV-Sender zu singen, sehen wir uns einmal an, was die SPD vom "Casting-Prinzip" lernen kann.
Regional verteilt wird nach neuen Talenten gesucht, die sich einer größeren Öffentlichkeit präsentieren können. Es ist klar, dass es bei einer Partei keine Jurorenbank gibt und die "größere
Öffentlichkeit" die Parteiöffentlichkeit ist.
Dennoch könnten Regionallkonferenzen zur Bestimmung einer Kurzliste von Kandidaten-Vorschlägen für die Wahl in Parteiämter einen wesentlichen Vorteil haben: Gesichter aus von allen
Parteiebenen erhalten die Chance, sich an wichtiger Stelle einzubringen, ohne ihre Kreativität für Sachthemen bereits in teils jahrzehntelangen Parteikarrieren mit Blick auf Seilschaften und das
eigene Fortkommen bis zur Unkenntlichkeit verbraucht zu haben.
Ausgestattet mit robusten Empfehlungen der Regionalkonferenzen hätten sie eine realistische Chance, ihre Kandidaturen auf Parteitagen auch gegen die vermeintliche Prominenz durchzusetzen.
Dieser Schritt würde zugegeben von der SPD viel Mut verlangen. Rudert sie allerdings nicht gegen den Strom der Routine, hat sie ganz sicher nichts zu gewinnen.
Die Erarbeitung von Kandidaten-Vorschlägen könnte in themenbezogenen Workshops stattfinden. Wichtige Hinweise auf geeignete Kandidaten würden sich ja schon aus den Debatten in den
Bündnissen und den Politikfeldparlamenten ergeben. Das Recht zur Kandidatur laut Parteiengesetz würde in keiner Weise berührt. In diesem Sinne würden Regionalkonferenzen informelle, aber
dokumentierbare Kandidatenlisten an die Parteitage übermitteln.
"Mehr Demokratie wagen" - Version 2.0
Die Chancen, mehr Demokratie zu wagen, stehen heute - unter anderem wegen neuer technischer Möglichkeiten der strukturierten Debatte über das Internet - besser denn je. Diesen Prozess zu
organisieren, bedeutet harte Arbeit.
Erste Lösungsansätze und Pilotprojekte gibt es, das technische Talent ist vorhanden und wartet auf den Startschuss. Ergreift die SPD als erste die Chance, Bürgerinnen und Bürger wieder eine
realistische Perspektive zu bieten, dass ihre Stimme oben ankommt und mit entscheidet und sie nicht bloß Bittsteller bleiben - dann wird die Mitarbeit wieder attraktiver.
Zudem würde die SPD das Gewicht ihrer eigenen Stimme im Parteienspektrum wieder erhöhen. Anderenfalls droht sie gemeinsam mit den anderen Parteien sklerotisiert zu werden und in den
Abwärtsstrudel eines Misstrauens zu geraten, mit dem sich immer mehr Bürger von der späten Berliner Republik abwenden.
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