Kultur

Auf der Flucht mit Kinderaugen

von ohne Autor · 29. August 2014
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Keine Eltern, keine Heimat, dafür ein endloser und gefährlicher Gewaltmarsch: In überwältigenden Bildern erzählt "Wolfskinder" von lange verdrängten Schicksalen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Es ist ein Kapitel der frühen Nachkriegszeit, das lange verschwiegen und erst während der letzten Jahre im großen Stil gelüftet wurde. Nach der Besetzung Ostpreußens durch die Rote Armee irrten Tausende Kinder übers Land, die ihre Eltern und ihr Zuhause, eben alles, verloren hatten. Über Nacht mussten Halbwüchsige, immer auf der Hut vor sowjetischen Soldaten, lernen, in der Wildnis zu überleben und sich nach Deutschland durchzuschlagen – oder sich, häufig unter neuem Namen, in der Sowjetunion einzurichten. Schätzungen zufolge wurden rund 25.000 Mädchen und Jungen zu sogenannten Wolfskindern. Darunter verstehen Forscher Kinder, die eine Zeit lang isoliert von anderen Menschen aufwachsen und deren Verhaltensweisen sich von ihren Altersgenossen aus gängigen Milieus fundamental unterscheiden.

Mögen auch viele Wolfskinder nicht völlig vereinsamt, sondern in Gruppen unterwegs gewesen sein, so blieb ihre Weise, die Welt zu erleben, gleichwohl extrem. In Büchern und Fernsehreportagen wurden ihre oftmals traumatischen und verdrängten Erfahrungen in jüngerer Zeit aufgearbeitet – nicht nur, aber auch unter dem Signum "Kriegskinder", also als ein Teilaspekt des breiten Erfahrungsspektrums von Bombennächten bis Flüchtlingstrecks.

Ziel vor Augen

Mit "Wolfskinder" trägt Regisseur und Drehbuchautor Rick Ostermann nun seinen Teil dazu bei, das Bewusstsein für jene Schicksale zu öffnen. Der Film erzählt von dem 14-jährigen Hans und seinem kleinen Bruder Fritz. Im Sommer des Jahres 1946 tragen sie ihre Mutter in den ostpreußischen Weiten am Wegesrand zu Grabe. Kurz darauf machen sie sich auf den Weg nach Litauen. Dort, irgendwo hinter der Memel, wartet die sichere Zuflucht auf einem Bauernhof. Unterwegs treffen sie auf Schicksalsgenossen, Rotarmisten und litauische Partisanen – als Gegner der Sowjetmacht sehen die Kinder in jenen Waldbrüdern Verbündete.

So schnell sich die Kindergruppen zusammenfinden, fallen sie auch wieder auseinander. Und doch: Sich im Alleingang zu behaupten, erscheint erst recht als, gelinde gesagt, waghalsig. Doch auch diese Erfahrung bleibt den Entwurzelten nicht erspart.

Wie erleben Kinder, zum ersten Mal auf sich allein gestellt, einen nächtlichen Wald? Was bedeuten Hunger und Todesangst für einen jungen Menschen, dessen Vorstellungskraft Tag für Tag ohnehin bis zum Äußersten gefordert wird? Ostermann, der mit diesem Film auch seine eigene Familiengeschichte aufarbeitet, entwickelt die Handlung ganz aus der Perspektive von Hans, Fritz und den anderen Kindern. So wandert der Zuschauer ebenso ängstlich und wachsam durch düstere Kiefernwälder und über weite Wiesen, über denen sich ein monumentaler blauer Himmel mit ebenso ausladenden, trägen Wolken ausbreitet.

Immer wieder stellt sich das Gefühl ein: Diese Idylle ist zu schön, um wahr zu sein. Nicht minder ansteckend sind jene Momente, in denen die Kinder den bedrückenden Rest der Welt ausblenden und einfach nur Kind sein wollen. Und sei es in der unbändigen und neugierigen Freude über einen Frosch als Abendmahlzeit.

Undurchsichtige Umgebung

Wie überhaupt der große Kontext weitgehend außen vor bleibt. Es sei denn, er kommt unerwartet als sowjetischer Armeejeep angerumpelt. Das Hauptaugenmerk gilt der Beziehung der Kinder zu einer nicht durchweg feindlichen, aber nicht immer einfach zu entschlüsselnden Umgebung. Daraus entsteht eine gleichsam subtile und soghafte Spannung, deren Intensität zu keiner Zeit nachlässt – gelegentlichen Momenten der Stilisierung von Schauplätzen und Gesten zum Trotz.

Doch genügt dieses, wenn auch spannende, Mit-den-Augen-eines-Kindes-Prinzip, um plastisch von der Entwurzelung und weiteren Grenzerfahrungen zu erzählen? Dankenswerterweise hat Ostermann gar nicht erst versucht, die Jungen und Mädchen umfassend Zeugnis über ihr Innenleben ablegen zu lassen. Wenn Kinder gerade in Krisensituationen als Optimisten beschrieben werden, die schon aus purem Überlebensinstinkt an einen guten Ausgang glauben und zugleich im Jetzt und Hier leben, gehen Ostermanns Figuren als absolut authentisch durch.

All das genügt jedoch kaum für eine Erzählhaltung, die mehr will als nur beschreiben. Welche Erinnerungen und Träume tragen diese Kinder mit sich? Hätte der Film diese Sphären mit Rückblenden oder experimentellen Montagen aufgegriffen, könnte "Wolfskinder" mit weitaus mehr Erkenntnis-Mehrwert aufwarten. Dessen ungeachtet berührt dieser isolierte Blick auf die Nachkriegswirren zutiefst. Zumal er, gerade wegen der schwachen Verbindung zum historischen Kontext, behutsam das Leiden der Schwächsten in aktuellen Konflikten in Erinnerung ruft.

Info:

Wolfskinder (D 2013), ein Film von Rick Ostermann, mit Levin Liam, Helena Phil, Jördis Triebel u.a., 93 Minuten.

Ab sofort im Kino

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