Ein Rausch von Doppelmoral
An Festtagen wird die Fassade arrivierter Behaglichkeit bekanntlich besonders herausgeputzt, aber desto unerwarteter kann diese bröckeln. Kein Wunder also, dass „Traumland“ an Heiligabend spielt. Szenerie und Datum dienen als Vehikel, um etwas Größeres, Universelles zu beleuchten. Die teuerste Stadt der Welt mit ihrer kommoden Lebensart zwischen Bergen und Banken, die einst Europas größte Drogenszene ihr eigen nannte, eignet sich für das Spiel mit Schein und Sein allerdings besonders gut. Zumal der realistische, fast schon dokumentarische Blick vom über Jahre gereiften Stallgeruch der Regisseurin zehrt, die längere Zeit im allseits bekannten Züricher Rotlichtviertel lebte und im Telefonsex-Geschäft jobbte.
Suche nach Halt
Die Symbolik zu Beginn ist indes ein Wink mit dem Gartenzaun. Fröhlich blinken die Weihnachtssterne in den Fenstern. Plötzlich wirft jemand einen brennenden Weihnachtsbaum aus dem Fenster – ein Fanal für die Stoßrichtung dieses Films, der allerdings einige überraschende Wendungen nimmt. Im Mittelpunkt stehen fünf Menschen aus völlig unterschiedlichen Kontexten, die sich auf der Suche nach Halt und Geborgenheit verlieren.
Die schwangere Lena erfährt zufällig, dass ihr Kardiologen-Gatte Martin sich außer Haus die Erotik holt, die ihm in der Ehe fehlt. Rolf lebt, von Frau und Tochter getrennt, in einer trostlosen Hochhauswohnung und will gerade zum Fest den harmonischen Schein für sich selbst wahren. Er klammert sich an die Prostituierte Mia. Als sie ihm lästig wird, wirft er Mia, die sich obendrein in größter Not befindet, aus der Wohnung. Auch für Mias Nachbarin Maria dreht sich alles um ihr Selbstbild als moralische Instanz, die in einem liederlichen Haus jeden Regelverstoß ahndet. Dabei verbaut die verwitwete Spanierin aus purer Frustation Mias Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Judith wiederum führt ein heimliches Doppelleben. Als Sozialarbeiterin reibt sie sich Tag und Nacht für die sehr jungen Frauen – eine davon ist Mia – vom Straßenstrich auf. Nach Feierabend gibt sie sich im Hotel ganz besonderen Spielereien hin. Die aus Bulgarien zugewanderte Mia wiederum will lieber heute als morgen zurück zu ihrem Kind, doch die Schlinge der Zuhälter zieht sich immer enger um sie. Wer zahlt am Ende den höchsten Preis für ein Dasein zwischen Hoffnung und Selbsttäuschung?
Aus dem Ruder gelaufen
„Traumland“ ist von einer behutsamen Expressivität zwischen Drama und Groteske und schockiert doch in seiner Offenheit. Er zeigt, wozu Menschen fähig sind, die vor allem ihrer Autosuggestion folgen. Und wie diese aus dem Ruder laufen, wenn sie ihr Scheitern erahnen. In erschreckender Weise wird das an Maria deutlich. Das dezente Spiel der Almodovar-Muse Marisa Paredes fördert erschütternd zutage, wie die Migrantin eine Grande Dame mimt, obwohl sie nur eine alte einsame Frau ist. Nicht weniger berührend ist André Jung als Rolf. Man hat schon fast Sympathie für das arme Würstchen, wie er sich am Rande einer Sex-Dienstleistung um Mia sorgt. Doch bei der erstbesten Gelegenheit lässt er ungerührt den harschen Mittelklasse-Egoisten von der Kette. Auch die zunächst so larmoyante Kindfrau Mia offenbart schließlich Facetten, die ihr am Anfang niemand zugetraut hätte. Die 22-jährige Luna Zimić Mijović als Mia ist zweifellos die große Entdeckung dieses Films, der sich in der Vorauswahl für den Europäischen Filmpreis befindet.
Doch ohne die herausragende Kamera- und Schnitttechnik würden die Leistungen dieses hochkarätigen Ensembles kaum in diesem Maße verfangen. So wie die Hauptfiguren stolpert auch der Zuschauer durch eine unwirklich anmutende Welt – nicht unwirklich schön, sondern schwer mit Auge und Herz zu durchdringen. Die meisten Szenen spielen in der Dämmerung oder nachts, weshalb das Auge selten Orientierungspunkte findet, sondern sich wie im Rausch durch die Zwischentöne treiben lässt. Bis irgendwann wieder das vertraute Hochhaus auftaucht und sich eine weitere Überraschung ankündigt. Als sollte diese Unübersichtlichkeit zeigen, wie die Fäden zwischen Menschen und Milieus manchmal unbemerkt zusammenlaufen. Dadurch zeigt sich am Ende umso deutlicher, wie abgeschottet die einzelnen Sphären sind und wer wirklich oben oder unten ist.
Info
Traumland (Schweiz 2014), Buch und Regie: Petra Volpe, Kamera: Judith Kaufmann, mit Luna Zimić Mijović, Marisa Paredes, André, Jung, Ursina Lardi, Bettina Stucky, Devid Striesow, Stefan Kurt u. a., 94 Minuten.
Ab sofort im Kino