Debatte

Auf die Wechselfälle des Lebens reagieren

Erwerbsbiografien sind heute selten geradlinig. Berufliche Umorientierungen, Umbrüche im familiären Bereich oder veränderte Interessen führen zu einem ständigen Auf und Ab im Arbeits- und Sozialleben. Darauf sollten auch Staat und Arbeitgeber reagieren. Ein Gastbeitrag zur Lebenslaufgestaltung in naher Zukunft.
von Frank Meissner · 18. Februar 2015

Vera M. hat ihr jährliches „Perspektivgespräch Arbeitszeit“ erfolgreich bei ihrem Arbeitgeber bestritten: Weil sie ihre kranke Freundin pflegt, wird sie im nächsten Jahr acht Monate aus sozialen Gründen freigestellt. Anschließend ist geplant, die Rückkehr schonend zu gestalten und die Arbeitszeit über fünf Monate sukzessive von 20 auf 32 Stunden zu erhöhen. Dann hat sie wieder das Niveau ihrer „Familienarbeitszeit“ erreicht, die teilt M. sich mit ihrem Partner, um die 4-jährige Tochter zu betreuen. Weiter wurden mit dem Arbeitgeber ‚Qualifikationszeiten‘ festgelegt und eine Vertretungsregelung vereinbart, um sie als Führungskraft zu entlasten. So oder so ähnlich könnte bald eine lebenslauforientierte betriebliche Personalpolitik aussehen.

Das Auf und Ab im Leben anerkennen

Erwerbsbiografien von Frauen und zunehmend auch von Männern sind heute selten geradlinig. Berufliche Umorientierungen, Brüche im privaten oder familiären Bereich oder veränderte Interessen führen zu einem Auf und Ab im Arbeits- und Sozialleben. Zu Beginn des Arbeitslebens stehen in der Regel andere Belange im Vordergrund als in der Phase der Familiengründung oder kurz vor der Rente. Eine Politik, die den gesamten Lebensverlauf im Blick hat, reagiert auf diese Wechselfälle des Lebens. Etwa indem sie unterschiedliche Erwerbsbiografien sozial absichert, damit keine Diskriminierungen entstehen, die sich z. B. zu Altersarmut verfestigen können.
Wichtigste Maßnahmen einer solchen Lebenslaufpolitik sind lebenslauforientierten Arbeitszeiten. Diese bestehen aus einem Mix aus verschiedenen Arbeitszeitmodellen und zeitlichen Optionen, wie z. B. (Langzeit-)Zeitkonten, Blockfreizeiten, der Wechsel zwischen Vollzeit und Teilzeitmodellen oder die Umwandlung von Geld- in Zeitwerte. Eine vollzeitnahe Teilzeit zwischen 30 und 35 Wochenstunden könnte sich als neuer Arbeitszeitstandard für Beschäftigte mit Fürsorgetätigkeiten etablieren und damit auch für eine gerechtere Arbeitsteilung der Geschlechter sorgen.

Vollzeit, Teilzeit, Freizeit – alles zu seiner Zeit

Lebenslauforientierte Arbeitszeitmodelle ermöglichen eine individuelle Flexibilisierung und verteilen das Arbeitszeitvolumen über den gesamten Erwerbsverlauf. Phasen von Vollzeittätigkeiten wechseln mit Teilzeit, Freistellungen oder Weiterbildungszeiten. Flexibilität in der Arbeitszeit war in den letzten Jahrzehnten weitgehend auf die ökonomischen Erfordernisse orientiert, jetzt öffnen sich vielversprechende Möglichkeiten Flexibilität im Sinne der Beschäftigten zu erreichen und die Work-Life-Balance ausgeglichener zu gestalten. Dafür braucht es einen betrieblichen Kulturwandel. Denn zeitliche Vielfalt und Flexibilität vertragen sich schlecht mit starren Anwesenheitszeiten und traditionellen Hierarchien. Stattdessen bedarf es betrieblicher Steuerelemente, die sich durch Professionalität, Verständigung, Kommunikation und Vertrauen auszeichnen.

Stimmiges Gesamtkonzept ist gefragt

Dafür gilt es einige Hindernisse aus dem Weg zu räumen: Die Übertragbarkeit von Zeitkonten bei einem Betriebswechsel ist dabei das kleinste Problem. Schwerer wiegen Arbeitsintensivierung und Ausdehnung der Arbeitszeiten durch Überstunden und die „Unkultur“ langer Anwesenheitszeiten. Arbeitgeber werden endlich erkennen müssen, dass Gewinne nicht zulasten von Beschäftigtenflexibilität realisiert werden können. Schließlich werden durch eine rigide Begrenzung langer Arbeitszeiten gesundheitliche Belastungen vermindert und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert. Gleichzeitig wird eine berufliche Karriere künftig weniger daran gemessen, wie groß die zeitliche Verfügbarkeit für das Unternehmen ist.

Damit dieses Mehr an Lebensqualität erreicht werden, braucht es auch aber ein stimmiges sozialpolitisches Gesamtkonzept, dass keine widersprüchlichen Anreize schafft, sondern die vielen Einzelmaßnahmen sinnvoll ergänzt. Eine solche Lebenslaufpolitik versteht sich als Teil einer Politik zur Gestaltung und sozialen Absicherung des demografischen Wandels. Damit werden wichtige Voraussetzungen geschaffen, das bislang vorherrschende Normalarbeitsverhältnis in ein neues lebenslauforientiertes zu transformieren.

Autor*in
Frank Meissner

ist Projektleiter „Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestalten“ beim DGB-Bundesvorstand.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare