Wirtschaftsexperte warnt vor dem „Gespenst der Ungleichheit“
Thomas Trutschel/photothek.net
Das Gespenst der Ungleichheit ist in die Industriegesellschaften des Westens zurückehrt. Nachdem es in der unmittelbaren Nachkriegszeit weitgehend ad acta gelegt zu sein schien, weitet sich seit den achtziger und neunziger Jahren in vielen Ländern wieder die Schere zwischen arm und reich.
Tendenz zur Ungleichheit in Deutschland
In Deutschland setzte die Tendenz zu mehr Ungleichheit erst Ende der neunziger Jahre ein. Bis 2005 nahm sie sogar rascher zu als in den meisten Ländern der OECD. Im nachfolgenden Aufschwung mit deutlichen Beschäftigungszuwächsen und in der Finanzmarktkrise, in der Börsencrashs und Pleiten insbesondere hohe Einkommen belasteten, wurde diese Tendenz unterbrochen. Seither deuten die Indikatoren jedoch wieder auf eine sich weitende Einkommensspreizung.
Nicht nur gängige und insbesondere sozialdemokratische Gerechtigkeitsvorstellungen werden durch die wachsende Ungleichheit verletzt, vielmehr ist sie mittlerweile auch ein gravierendes Problem für die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die wirtschaftliche und soziale Dynamik geworden. Ungleiche Volkswirtschaften sind instabiler, besagt ein empirischer Befund des Internationalen Währungsfonds (IWF). Aufschwünge haben eine kürzere Lebensdauer in Ökonomien, in denen die Einkommensungleichheit stärker ausgeprägt sind. Die Stabilität ist dabei von zwei Seiten bedroht: den Löhnen und den Finanzmärkten.
Keine starken Lohnsteigerungen
Der klassische Fall ist eine zu rasche Lohnpassung. Weil die mittleren und niedrigen Einkommen der Beschäftigten gerade in wirtschaftlich schwachen Zeiten deutlich hinter den hohen zurückgeblieben sind, wird in Aufschwungszeiten über starke Lohnsteigerungen versucht, diesen Rückstand wieder aufzuholen. Dies kann aber leicht zu Übersteigerungen führen, die die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft schwächen und so den Aufschwung zum Erliegen bringen. Eine solche Entwicklung setzt jedoch relativ starke Gewerkschaften voraus. Mit deren tendenzieller Schwäche in den vergangen Jahrzehnten ist diese Form der Gefährdung somit weniger wahrscheinlich geworden. In Deutschland mit seinen zumeist stark an gesamtwirtschaftlichen Zielen orientierten Gewerkschaften war diese Bedrohung ohnehin nie sehr stark.
Anders sieht es mit der zweiten Gefahr aus, die von den Finanzmärkten ausgeht. Sie hat in jüngster Zeit merklich zugenommen. Dies liegt daran, dass in ungleichen Volkswirtschaften mit besonders hohen Einkommen diese Risiko reicher angelegt werden. Damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit eines Crashs an den Finanzmärkten mit entsprechend negativen Folgen für die Realwirtschaft.
Einkommensverkrustung bedroht wirtschaftliche Dynamik
Es gibt aber noch eine weitere, schleichende aber nicht weniger bedrohliche Tendenz, die mit erhöhten Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten verbunden ist: die abnehmende Einkommensmobilität. Entgegen dem Bild, das vielfach beschrieben wird, ist erhöhte Ungleichheit durchaus nicht mit erhöhter wirtschaftlicher und sozialer Dynamik gleichzusetzen. Im Gegenteil, sowohl das Wachstum als auch die soziale Mobilität nehmen ab. Dabei könnte das zweite sogar die Ursache des ersten sein. Warum sich anstrengen, wenn es immer aussichtsloser wird, eine höhere Einkommensgruppe zu erreichen?
Dieses Phänomen der Einkommensverkrustung greift leider auch in Deutschland um sich. Es ist also Zeit, politisch zu handeln, um die wirtschaftliche Dynamik in unserem Land zu erhalten. Das Gespenst der Ungleichheit muss vertrieben werden.
ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen. Er gründete und war von 2005 bis 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.