Meinung

Wie ostdeutsche Identität bei der Vereinigung helfen kann

Die Wiedervereinigung hat auf beiden Seiten Enttäuschungen produziert, eine Misserfolgsgeschichte ist sie nicht. Ostdeutschland als Region mit einer besonderen Geschichte zu akzeptieren, kann Teil der zukünftigen deutsch-deutschen Normalität sein.
von Steffen Mau · 9. November 2021
Aufnahme aus der Serie „Blickwechsel“ von Ina Schoenenburg: Imagination des Kommenden und zugleich der Haltegriff des Vergangenen
Aufnahme aus der Serie „Blickwechsel“ von Ina Schoenenburg: Imagination des Kommenden und zugleich der Haltegriff des Vergangenen

„Wiedervereinigung“, „Beitritt“, „Übernahme“, „Inkorporation“ – die Begriffe zur Etikettierung des deutsch-deutschen Zusammengehens sind so vielfältig wie die Deutungsangebote dazu. Wie immer man diesen Prozess politisch beschreiben will, klar ist, dass es sich um eine Mesalliance der Ungleichen handelte, wobei sich diese Ungleichheit auf die gesellschaftlichen Grundstrukturen, das Machtgefälle, die ökonomischen Disparitäten und die kulturellen Unterschiede bezieht.

Die Vorstellung des friktionslosen Hereinholens Ostdeutschlands in die westdeutsche Modellgesellschaft war über eine lange Zeit eine politische Leitvorstellung. Institutionen sollten übertragen, Restbestände des Staatssozialismus abgebaut und Mentalitäten transformiert werden.

Übernahme westlicher Konzepte

Die Bundesrepublik sah in der untergehenden DDR vor allem ein Projekt der Anpassung und Transformation; Rückwirkungen auf eigene Besitzstände und politische Bewusstseinszustände wurden nicht mitgedacht. Wozu auch? Der Zusammenbruch des Staatssozialismus hatte die maßgebliche Alternative zur Marktwirtschaft und Demokratie hinreichend diskreditiert, jetzt kam es darauf an, in der Ex-DDR, aber auch in den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas, Reformen einzuleiten, die auf einen institutionellen Nachbau hinausliefen.

So ging es bei der Transformation um die Übernahme westlicher Politikkonzepte, um den Import liberaler demokratischer Institutionen und die Ausprägung westlicher Werte und politischer Selbstverständnisse. Die Autoren Ivan Krastev und Stephen Holmes sprechen vom „Nachahmungsimperativ“, der den Weg zu Wohlstand und Freiheit ebnen sollte.

Transformation von außen

Für die neuen Bundesländer geschah diese Transformation nicht von innen als gesellschaftliches Modernisierungs- und Erneuerungsprojekt, sondern maßgeblich von außen. Man könnte sogar von einer dreifach exogenen Transformation sprechen. Nicht nur wurde die Blaupause West über den untergegangenen Staat gelegt und institutionelle Arrangements von West nach Ost transferiert, an den entscheidenden Schaltstellen, ob in der Wirtschaft oder der Verwaltung, waren es die Transfereliten, die den Ton angaben. Und schließlich wurden Geld und Waren von West nach Ost gebracht, sodass die Ostdeutschen mit Transfereinkommen zum westlichen Konsumniveau aufschließen konnten.

Dieses Programm der dreifach exogenen Transformation hat sich als enttäuschungsanfällig erwiesen. Trotz vieler Vorzüge und Erfolge war es eines, das den Osten immer nur als Objekt politischer Einwirkung, kaum als selbstständigen Akteur wahrnahm. Vor allem für den ostdeutschen Fall galt ja, dass an den schon im Westen erprobten institutionellen Beständen nicht gerüttelt werden sollte. Das zwang die Ostdeutschen in eine Situation, in der sie zwar von der Politik Betroffene waren, sich aber viel zu wenig mit einer eigenen Handlungsmacht ausgestattet sahen. Sie hatten sich einzuordnen, einschneidende Veränderungen am Bestandsmodell waren nicht gewünscht.

In einer Nachahmungssituation schwingt immer das Gefühl mit, Erwartungen und Standards, die man nicht selbst bestimmt hat, hinterherzulaufen. Wenn vor allem westdeutsche Eliten machtvolle Akteure sind, gerät man leicht in eine Situation, in der alle Folgeprobleme der Transformation – seien es Massenarbeitslosigkeit und industrieller Rückbau – auf „den Westen“ projiziert werden können. Für viele stellte sich der gepriesene „Aufbau Ost“ als ein Abbruch beruflicher Biografien dar, was oft mit Ohnmachtsgefühlen einherging.

Das hat auch Vertrauen in die Politik beschädigt und eine Distanz zu den Institutionen mitbewirkt. Man kann aus dieser Transformationserfahrung lernen, dass es wichtig ist, die Akteure vor Ort zu Mitgestaltenden politischer und sozialer Prozesse werden zu lassen. Das Mitentscheiden und das Mittun scheinen unabdingbar zu sein.

Unterschiedliche Narrative in Ost und West

Dennoch wäre es falsch, die Wiedervereinigung als Misserfolgsgeschichte zu erzählen. Die Bilanz, sowohl ökonomisch als auch persönlich, ist bei den Allermeisten positiv. Sie sehen das Ende der DDR und die Einheit als Gewinn, auch wenn sie sich das Etikett vom „Gewinner der Einheit“ nicht unbedingt anheften lassen möchten. Dies liegt daran, dass die Transformationsphase oft als zumutungsreich empfunden wurde und es bei vielen lange brauchte, ehe sie ihren Platz in der neuen Gesellschaft gefunden hatten.

Auch heute noch unterscheiden sich die Narrative der Wiedervereinigung in Ost und West: Die Deutsche Einheit ist im Osten stark mit der Friedlichen Revolution und dem demokratischen Aufbruch verbunden, im Westen vor allem mit dem Scheitern und den Unzulänglichkeiten der DDR. Die Ostdeutschen betonen die Brüche und hohen sozialen Kosten der Transformation, der Westen sieht vor allem die großzügige Hilfe und die vielen Transfers.

Fragt man heute nach dem Stand der Deutschen Einheit, verstehen die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der westlichen Bundesländer diese als vollendet, im Osten hingegen pocht man immer noch auf die Verwirklichung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Ob bei der Vermögensverteilung, den Einkommen oder der Wirtschaftsstruktur – bei vielen wichtigen gesellschaftlichen Indikatoren gibt es markante Ost-West-Unterschiede. Im Osten sieht man mehr Differenz und anhaltende Unterschiede, im Blick des Westens sind diese Differenzen kaum mehr vorhanden.

Der Osten muss neu erzählt werden

Als Entwicklungsperspektive, so erkennen wir heute, war die Erwartung der vollständigen Anverwandlung des Ostens an den Westen illusionär. Ostdeutschland wird auch in Zukunft ein eigener Sozial- und Erfahrungsraum bleiben, der sich auch in Biografien, Lebenswegen, Familienbindungen und Freundschaftsnetzwerken aufblättern lässt. Ein Osten, der erzählt werden will, neu erzählt werden muss.

Eine Anregung gibt die 1979 in Ostberlin geborene Fotografin Ina Schoenenburg mit ihrer Serie „Blickwechsel“, in der die Familie im Zentrum steht. Die Künstlerin spielt – wie auf dem hier abgebildeten Foto – mit der Spannung von Bewegung und Stillstand, Unverrückbarkeit und dem Blick nach vorn. Das Kanu steht auf der Wiese, aber Kind, Frau und Hund schauen, als würden sie auf ein nahendes Ufer zusteuern. Das hat die ostdeutsche Gesellschaft in den vergangenen drei Dekaden immer geprägt: eine Imagination des Kommenden und zugleich der Haltegriff des Vergangenen.

Lange hat man sich politisch geweigert, „den Osten“ auch als Zusammenhang zu verstehen. Das Ausschleichen einer Ost-Identität wurde gewünscht und als Beitrag zur Vereinigung gesehen. Heute kann man dies gelassener sehen, sogar auf damit verbundene Entwicklungsmöglichkeiten verweisen.

Ostdeutsche Identität ohne Rückgriff auf die DDR

Zwar gibt es in den fünf ostdeutschen Bundesländern jeweils eigene regionale Identitäten, aber doch auch ein gemeinsames Band, das auf das Herkommen und gemeinsame Problemlagen verweist. Ostdeutschland als Region mit einer besonderen Geschichte zu begreifen und zu akzeptieren, kann sogar Teil der zukünftigen deutsch-deutschen Normalität sein. Für die nachrückenden Generationen stellt sich jedenfalls die ostdeutsche Identität ohne Rückgriff auf die DDR her. Soweit es gelingt, hieraus keine Mentalität des Trotzes, sondern eine eines gefestigten Selbstbewusstseins hervorzubringen, wäre schon viel gewonnen. Das kann man durchaus als Ressource begreifen.

Mit einer positiven Besetzung der Heimat sind Leute eher gewillt, vor Ort zu bleiben und nicht abzuwandern. Seit 2017 ist die starke Abwanderung aus Ostdeutschland gestoppt, nachdem die DDR vierzig Jahre lang ein Abwanderungsland war und Ostdeutschland seit 1989 fast zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger gen Westen verloren hat. Dass sich nunmehr – hoffentlich – eine Trendwende abzeichnet, ist ein gutes Zeichen. Nur wenn junge Leute bleiben, nachdem sie ihre Ausbildung oder ihr Studium absolviert haben, sich vor Ort engagieren und Familien gründen, kann die starke Überalterung und das immer weitere demografische Ausdünnen vieler Regionen in Ostdeutschland gestoppt werden.

Wenn die Gründe zu bleiben jene wegzuwandern übersteigen, dann heißt das auch, dass sich eine neue Zukunft herstellt. Und wenn dann noch neue Gruppen, ob aus den alten Bundesländern oder aus dem Ausland, hinzukommen, sich niederlassen und sich daraus auch neue Bündnisse und Projekte entwickeln, könnte eine neue Dynamik entstehen.

Der Text erschien zuerst im Buch „Traum(a)land. Wer wir sind und sein könnten“ unter dem Titel „Vom Gestern zum Morgen. Ostdeutschland als Erfahrungsraum“.

Autor*in
Steffen Mau

lehrt Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Autor des Buchs „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ (Suhrkamp 2019).

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