Wie der Ukraine-Krieg die europäische Politik verändert
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Als Russland vor einem Jahr die Ukraine überfiel, war das für die Europäische Union ein Schock wie für alle anderen. Wider Erwarten reagiert die Union aber bis heute auf Putins Aggression mit Mut, Kreativität und Einigkeit. Für kommende Herausforderungen wird das allein aber nicht reichen. Der bevorstehende Wiederaufbau der Ukraine bietet dem Land und der EU eine Chance zu zeigen, das man aus den Fehlern der neo-liberalen Transformation nach 1989 gelernt hat.
Die russische Aggression gegen die Ukraine hat die Politik und das Leben in Europa im Jahr 2022 bestimmt und wird dies auch im Jahr 2023 weiter tun. Obwohl es in erster Linie die Menschen in der Ukraine sind, die unter den Auswirkungen des Krieges von Wladimir Putin leiden, sind die Auswirkungen weltweit zu spüren. Putins Invasion und dass ihr innewohnende Potenzial, Chaos im internationalen System anzurichten, zeigen, dass Kriege, an denen Großmächte beteiligt sind, in einer globalisierten Welt nicht länger regional eingedämmt werden können.
Eine Neubewertung der EU-Ostpolitik
Wann immer dieser Krieg schließlich endet, er hat bereits eine Dynamik mit weitreichenden globalen Auswirkungen entfacht. Er verstärkt die seit der Finanzkrise 2008/09 zu beobachtenden und durch die Corona-Pandemie beschleunigten De-Globalisierungstendenzen. Geopolitisch entstehen neue Machtzentren, geoökonomisch ist eine Neuausrichtung der Energie-, Produktions-, Verteilungs- und Finanzsysteme im Gange.
Für die Europäer löste die russische Invasion eine Überprüfung und Neubewertung ihrer Ost-Politik aus, die nicht nur auf die früheren Kapitel des russisch-ukrainischen Konflikts zurückgeht, sondern auf die postkommunistischen Transition seit 1989 insgesamt. Dabei wird aus heutiger europäischen Perspektive überdeutlich, dass der Wandel in Russland bereits bis zum Ende der Jelzin-Jahre (2000) wirtschaftlich in eine falsche Richtung gelaufen war (Oligarchisierung, viele Wende-Verlierer*innen, wachsende Ungleichheit, Rohstoffwirtschaft) Und spätestens seit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 hätte klar sein sollen, dass Europa Russlands politischen Weg nicht mehr mitgehen kann.
Europas Lücke in der Sicherheitspolitik
Bereits vor dem Ukrainekrieg lebte die Europäische Union in einem Sicherheitsparadoxon. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) war das schwächste Glied im europäischen Integrationsprojekt. Die Union steht heute vor einem Bogen der Instabilität, der sich von der Sahelzone bis zum Horn von Afrika, durch den Nahen Osten und den Kaukasus bis zu den neuen Frontlinien in Osteuropa erstreckt. Daher ist die Nachfrage nach Sicherheit durch die EU deutlich und stetig gewachsen – mit den USA entweder abgelenkt oder nach innen gerichtet oder mit Fokus auf Asien.
Das entsprechende Sicherheitsangebot hat die Union jedoch nicht organisieren können. Sie machte zwar institutionell einige Fortschritte, aber es fehlt weiterhin an ausreichenden Strukturen und Kapazitäten. Vor allem aber mangelte es am politischen Willen, die militärische Handlungsfähigkeit der EU durch die Schaffung einer leistungsfähigen europäischen Rüstungsindustrie, gemeinsame Beschaffung und die Zusammenlegung von Fähigkeiten der nationalen Armeen nachhaltig zu stärken. Das ambitionierte Konzept einer „strategischen Autonomie“ Europas in der Sicherheitspolitik entspricht bei weitem noch nicht den Sicherheits- und Militäranforderungen, die der Krieg hervorgebracht hat. Der russische Angriff auf die Ukraine macht diese europäische Lücke zwischen hohem Sicherheitsbedarf und geringem Angebot schmerzlich deutlich.
Europa zahlt einen hohen Preis
Während Washington und London schnell und entschlossen reagierten und die NATO als das Verteidigungsbündnis der Europäer wiedererweckt wurde, hatte die EU vor allem mit dem militärischen Aspekt des Konflikts zu kämpfen, der die Wirklichkeit eines großen zwischenstaatlichen Krieges auf den europäischen Kontinent zurückbrachte. Der Krieg setzte der in der Charta von Paris (1990) verankerten europäischen Sicherheitsarchitektur nach dem Kalten Krieg ein endgültiges Ende.
Es wird immer deutlicher, dass Europa einen hohen Preis dafür zahlt, sich nicht ausreichend um eine gemeinsame und proaktive Russlandpolitik bemüht zu haben. Putin führte Russland mit dem Anspruch, eine militärische Weltmacht zu sein, zurück in die internationale Politik. Und er untermauerte seine zunehmend aggressive Außenpolitik, indem er sich auf konservative, antikommunistische und nationalistische Denker stützte, die panslawische Ideen mit antiwestlichem, neoimperialistischem russischem Nationalismus verbanden.
Diese Denker fordern eine „Russische Welt“ (Russkiy mir), die bestehende Staatsgrenzen relativiert und ausdrücklich die russische Diaspora einschließt – ein umfassendes Konzept, das ideologische, politische, kulturelle, geopolitische und identitätsstiftende Fragen anspricht. Dieser Ansatz wird von der russisch-orthodoxen Kirche flankiert, die die „russische Welt“ wieder zu einem Vorposten der christlichen Zivilisation machen will. Das Konzept der „Russkiy mir“ wurde bereits von Putin genutzt, um Russlands Annexion der Krim zu legitimieren.
Eine friedliche Koexistenz mit Russland ist kaum denkbar
Bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges scheint der Westen weder diese Doktrin noch Sicherheitsbedenken gegenüber Russland ernst genug genommen zu haben. Aber, Politiker*innen von Washington bis Berlin sollten sich nichts vormachen: Vor dem Hintergrund des historischen, philosophischen und ideologischen Gedankengebäudes, auf das sich Präsident Putin beruft, wird der Einsatz in der Ukraine als Teil eines viel größeren Kampfes mit dem Westen und der Nato um Russlands Zukunft gesehen. Es geht um den Fortbestand und das Überleben der „Russischen Welt“. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage, ob Sicherheit auf dem europäischen Kontinent mit oder gegen Russland organisiert werden kann, eine ganz andere Bedeutung. Eine friedliche Koexistenz mit Putins russischer Welt ist derzeit kaum vorstellbar.
Wir müssen jedoch zugeben, dass es auf EU-Ebene nicht nur an politischen Konzepten und Strategien zu Russland gefehlt hat, sondern auch an der Anerkennung der Komplexität der Ukraine als Land und Nation. Die Fragilität des ukrainischen Staates und die allgemeinen Schwächen seiner Wirtschaft, Oligarchisierung, Korruption etc. hätten ernsthafter bewertet werden müssen. Das Gleiche gilt für das bemerkenswerte Potential und die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Zivilgesellschaft, die in der nationalen Politik viel stärker als in Russland eine Rolle gespielt hat. Doch seit der Unabhängigkeit Anfang der 90er Jahre blieb die Ukraine für den Westen ein Land in-between, ein Zwischending. Die westliche Politik gegenüber Kiew war oft nichts anderes als eine Ableitung der jeweiligen Politik gegenüber Russland. Das wird sich nun mit dem Krieg definitiv ändern.
Keine falschen Hoffnungen für die Ukraine
Wider Erwarten haben die europäischen Staats- und Regierungschefs*innen seit dem ersten Schock vor einem Jahr mit bemerkenswerter Einheit, Entschlossenheit und Schnelligkeit gehandelt. Obwohl die EU zu Beginn des Konflikts kein militärischer Faktor war, hat sie sich als bedeutender Akteur erwiesen, indem sie die ukrainischen Kriegsanstrengungen unterstützt, Flüchtlingen hilft, Russland sanktioniert und die Ukraine zu einem Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft gemacht hat. Eine große Herausforderung bleibt weiterhin die Vereinbarkeit der unbefristeten Kriegsanstrengungen mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Union und ihren Mitgliedsländern, die den Europäern angesichts von Inflation, Versorgungsengpässen und steigenden Migrantenzahlen viel abverlangt.
Die europäische Strategie als Antwort auf die russische Invasion zielte darauf ab, die Ukraine zu ermutigen und westliche Unterstützung zu mobilisieren, aber sie war nicht ohne Risiken. Viele Staats- und Regierungschef*innen der EU begannen, die Chancen eines Beitritts der Ukraine zur Union zu überschätzen, und weckten Erwartungen, die die Ukrainer glauben ließen, ihr Land könne irgendwie ganz natürlich in die EU-Strukturen passen, wie wir sie heute kennen. Bei öffentlichen Gesprächen mit ukrainischen Politikern über die Chancen eines EU-Beitritts tauchten häufig populistische Narrative auf, dass die Geschwindigkeit des Beitritts von der Effizienz der Bürokratie in Brüssel abhängt und nicht davon, ob das betreffende Land EU-Standards und -Regeln erfüllt.
Unterschiedliche Erwartungen innerhalb der EU
Gleichzeitig spielten die Staats- und Regierungschef*innen der EU in Gesprächen mit EU-Bürger*innen die erwarteten Kosten der Wirtschaftskriegsführung immer wieder herunter. Kein Wunder, dass die Europäer*innen enttäuscht waren, als die gegen Russland verhängten Sanktionen den Angreifer nicht dazu zwangen, seinen Feldzug zu beenden und die Ukraine in Frieden zu lassen, noch mehr, als der Kontinent wieder in Inflation und wirtschaftliche Rezession abrutschte und sich einem langfristigen Wachstumsrückgang gegenübersah.
Europa beendete das Jahr 2022 dennoch bemerkenswert vereint in seiner Unterstützung für die Ukraine. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin unterschiedliche Ansichten darüber, wie der Krieg enden sollte, welche Sicherheitsarchitektur Europa in der Nachkriegszeit anstreben sollte und wie viel Raum für die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland nach Kriegsende verbleiben würde.
Die Verdienste der Sozialdemokratie
Es ist klar, dass die Sozialdemokrat*innen zumindest im ersten Kriegsjahr nicht dafür belohnt wurden, dass sie an der Spitze der Solidarität mit der Ukraine gekämpft haben. Fortschrittliche Kräfte haben sich in diesem schwierigen Jahr dadurch ausgezeichnet, dass sie über die notwendige internationale Solidarität hinausgegangen sind und sie mit zwei weiteren Zielen verbunden haben: einer gerechten Verteilung der Kriegskosten innerhalb unserer Gesellschaften und der Vermeidung einer unnötigen Eskalation bei gleichzeitiger Friedens- und Wiederaufbauvorbereitung. Keine andere politische Kraft hat ihre Verantwortung so umfassend definiert, diese Haltung ist ein charakteristisches Merkmal der europäischen Sozialdemokratie.
Der zu leistende Wiederaufbau der Ukraine wird dem Land die Chance einer zweiten Transformation bieten. In diesem Prozess wird es entscheidend sein, aus den schwerwiegenden Fehlern des neoliberalen Übergangs seit Anfang der 1990er Jahre in den postsowjetischen Gesellschaften und in Mittel- und Osteuropa zu lernen. Diesmal muss der Wiederaufbau weit über den liberalen Marktkapitalismus hinausgehen. Es braucht einen proaktiven, fördernden Staat, der gleichermaßen in der Sozial-, der Industrie- und der Technologiepolitik engagiert ist, Dezentralisierung und Regionalität respektiert und sich für Nachhaltigkeit einsetzt. Die Sozialdemokrat*innen können in dieser Hinsicht selbstbewusst sein und sich auf die Erfolge einer solchen Politik in vielen europäischen Ländern beziehen. Nur so wird der Wiederaufbau der Ukraine dieses Mal zu einem Weg „für die Vielen, nicht für die Wenigen“ werde. Und so wird einer Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union nichts im Wege stehen.
ist Generalsekretär der European Foundation for Progressive Studies (FEPS). Von 2010 bis 2014 war er EU-Kommissar für Arbeit und Soziales.