Wie Brandts Ostpolitik heute missverstanden wird
Thomas Trutschel/photothek.net
„Wir sind entschlossen, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland … zu wahren, den Frieden zu erhalten und an einer europäischen Friedensordnung mitzuarbeiten ….“ Damit leitete Willy Brandt 1969 seine Regierungserklärung ein und unter dieser Prämisse gestaltete er vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen sowohl als antifaschistischer Emigrant als auch Regierender Bürgermeister von Berlin, als der er durchaus hart gegen den staatlichen Kommunismus sprach, die neue Ostpolitik mit dem Motto „Wandel durch Annäherung“.
Denn er kannte nicht nur die historische Schuld gegenüber den Nachbarländern, sondern erkannte eben auch die Weltlage, in der immer latent ein unser Land vernichtender Atomkrieg drohte und hatte den Misserfolg von 20 Jahren Abgrenzung, einer Politik der kollektiven Lebenslüge, erlebt. Es war nur logisch und moralisch geboten, hier den von ihm erfolgreich beschrittenen Weg einzuschlagen. Brandt hatte kein Verständnis für die Diktaturen, aber sah pragmatisch die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit. Es muss ihn geschmerzt haben, sich mit den Unterdrückern der Freiheit statt, wie später in Portugal und Spanien, mit ihren Vorkämpfern arrangieren zu müssen.
Ein großes Missverständnis
Heute gibt es neben der Nähe eines Altkanzlers zum russischen Präsidenten Putin im Umfeld der SPD eine Häufung von distanzlosem Verhalten und Nachsicht gegenüber russischen Aggressionen in Osteuropa, die sich in Kritik an der Haltung von Außenminister Heiko Maas ausdrückt. Willy Brandts erfolgreiche Ostpolitik – ein historischer Höhepunkt und ein Markenkern der Sozialdemokratie – wird zu Unrecht als Begründung für dieses befremdliche Verhalten herangezogen. Dabei könnte das Missverständnis kaum größer sein.
Der heutige zentrale Verständniskonflikt liegt in der Verwechslung von Ziel und Weg. Während das Ziel, eine Friedensordnung für Europa, das gleiche ist, ist der Weg dahin unter völlig anderen Vorzeichen zu wählen. Doch leider wird der alte Weg sowohl von den westdeutschen Kindern der Brandt-Ära als auch den ostdeutschen Kindern der Brandt-Erfolge zum Ziel umgedeutet, das in Konflikt mit den Erfordernissen des staatlichen Handelns geraten muss und gar nicht selten mit realitätsfernen Erzählungen vom unfairen Umgang mit Russland umrahmt wird.
Den Frieden gefährdet, wer sich nicht an Regeln hält
Die heutige Weltlage ist eine grundlegend andere. In Europa droht kein Atomkrieg, kein militärischer Flächenbrand. Es gibt keine Blockkonfrontation mit eingefahrenen Mustern. Aber es gibt internationale Regeln, die sich die Staaten gemeinsam und freiwillig gegeben haben. Regeln, die von einer nationalistischen Autokratie in Frage gestellt und überschritten werden. Den Frieden gefährdet nicht, wer diese Regeln verteidigt, sondern wer sie ignoriert. Es ist daher richtig, Russlands völkerrechtswidrige Aggressionen in Osteuropa, seine Provokationen und Drohungen scharf zu kritisieren, sowie eine Revision oder zumindest eine ausbleibende Wiederholung solchen Verhaltens mit Sanktionen erzwingen zu wollen.
Es ist richtig, sich gegen die versuchte Destabilisierung liberaler Demokratien, zum Beispiel durch verschwörungstheoretische und rechtspopulistische Fernsehsender, zur Wehr zu setzen, sowie Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu problematisieren. Es ist also richtig, wie das Auswärtige Amt die Weichen in diesen Fragen stellt, weil es die logische zeitgemäße Interpretation von Brandts Grundsätzen ist. Michael Roth, Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Die sozialdemokratische Ostpolitik entstammt einer bipolaren Welt, die es nicht mehr gibt. Wir müssen sie heute neu denken und weiterentwickeln.“
Jede Zeit will eigene Antworten
Eine 155 Jahre alte Partei zieht natürlich einen Teil ihrer Stärke aus der Vergangenheit, aus ihren guten und schlechten Erfahrungen und aus der stetigen Ergänzung der Konzepte durch ihre herausragenden Köpfe. Ein Jahrhunderthorizont hilft bei der Einordnung von Ereignissen und der Beurteilung von Lösungswegen, steht Hektik fehlervermeidend entgegen.
Doch sie darf nicht im Gestern leben, die Vergangenheit muss für die Zukunft arbeiten. „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer.“ So mahnte Brandt selbst, auch geistig nicht zu verharren. Die SPD kann erfolgreich Politik gestalten, wenn es ihr gelingt, die großen, weiter richtigen Konzepte ins 21. Jahrhundert zu übersetzen und auf die vor uns liegenden Probleme anzuwenden. Die SPD tut gut daran, sich auch künftig Willy Brandt verpflichtet zu fühlen, aber mit Offenheit und Mut, nicht Angst und Beharren. Denn #wirsindwilly.
ist Vorsitzender des Kieler Ortsvereins Suchsdorf und Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Mathias Stein.