Wie aus dem öffentlichen wieder ein solidarischer Raum wird
imago/Ikon Images
Wenn ich jeden Morgen, mit unserem Sohn das Haus verlasse, sage ich ihm, dass er nicht auf den Bürgersteig rennen soll. Oft fahren Fahrradfahrer in hohem Tempo dicht an unserem Hauseingang vorbei. Wenn ich unseren Sohn mit dem Auto zur Schule bringe, kommt es nicht selten vor, dass wir bedrängt werden von dicht auffahrenden Autos. Wir wohnen in einem Viertel, das überwiegend aus Spielstraßen besteht. Wenn ich zusammen mit unserem Sohn mit dem Fahrrad zur Schule fahre, müssen wir uns an den Straßenübergängen oft durch parkende Autos hindurchschlängeln, die den Autofahrern die Sicht auf Radfahrer und Fußgänger nehmen. Als ich letztens einen Autofahrer darauf aufmerksam machen wollte, dass er auf dem Bürgersteig parkt, wurde ich mit einem Schlagstock bedroht.
Der Alltag ist rauer, die Menschen sind gereizter
Die Gesellschaft ist gestresst. Das macht sich nicht bloß im Straßenverkehr bemerkbar. Ich weiß nicht, wann es begonnen hat. Ob es mit der Finanzkrise eingesetzt hat oder mit der Flüchtlingskrise oder mit der Reform der Sozialsysteme. In jedem Fall ist der Alltag deutlich rauer geworden. Die Menschen sind gereizter, selbst bei Kleinigkeiten, die sie aus irgendeinem Grund stören. Sie werden schneller aggressiv, beleidigen sich häufiger und sind immer weniger gewillt, auf andere Rücksicht zu nehmen. Wenn sie es eilig haben, müssen die anderen zur Seite springen. Wenn sie der Meinung sind, jetzt an der Reihe zu sein, sollen die anderen die Klappe halten. Wenn andere mit ihrem Verhalten ein Problem haben, dann ist das deren Problem. Die Aufmerksamkeit, die sie verlangen, gilt vor allem ihnen selbst. Aber angefangen, nur an sich zu denken, haben immer die anderen.
Seit einiger Zeit habe ich aufgehört, mich aufzuregen. Nicht nur im Straßenverkehr. Ich bewege mich möglichst unauffällig im öffentlichen Raum, um bloß niemanden zu provozieren. Früher habe ich gerne diskutiert. Das mache ich heute nicht mehr oft. Ich äußere mich nur noch wenig in den sozialen Medien und lese die Kommentare unter den Beiträgen nur selten. Überall kommt einem schnell eine ungeheure Wut entgegen. Die Anlässe können völlig verschieden sein, auch die politischen Richtungen.
Solidarität ist unter diesen Bedingungen schwierig
Die schnelle Erregung ist nicht auf bestimmte Milieus begrenzt. Oft ist nur schwer zu erkennen, wer sich gegen wen wendet und ob es überhaupt noch um eine Auseinandersetzung geht. Wer zu schlichten versucht, wird meist selbst angegriffen. Zustimmungsfähig sind vor allem Ressentiments. Ich ziehe mich zurück, weil ich verunsichert bin, vielleicht genauso wie die, die aufrüsten und ihr Rechthaben umso vehementer in Szene setzen. Denn selbst diejenigen, die sich zur Mehrheit zählen, fühlen sich nicht mehr ausreichend gehört und fangen an zu schreien. Solidarität ist unter diesen Bedingungen ein unwahrscheinlicher Fall.
Moralische Appelle helfen nur begrenzt. Sich einfühlen zu können, ist eine Praxis, die geübt werden muss. Denn es ist tatsächlich manchmal kaum zu begreifen, warum sich jemand so und nicht anders verhält. Oft ist es schwer, sein Urteil aufzuschieben und nach den Gründen zu fragen. Wenn die anderen aber nur noch als anders erscheinen, nimmt auch die Fähigkeit zur Einfühlung ab und mit ihr die Möglichkeit eines solidarischen Zusammenlebens. In einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft sind nicht nur verlässliche Regeln besonders wichtig, sondern ebenso eine soziale Infrastruktur, die es möglich macht, sich zugewandt zu begegnen. Denn oft hängt unser Verhalten davon ab, wie die realen und medialen Räume gestaltet sind.
Öffentlich-rechtliche soziale Medien könnten helfen
In den 70er Jahren hat die SPD ein neues Bildungssystem ins Leben gerufen, mit neuen Architekturen und Schulplänen, die das Lernen der Gesellschaft von Grund auf verändert haben. Heute müssten wir darangehen, das Gemeinwesen und seinen öffentlichen Raum ebenso grundlegend neu einzurichten, damit die Menschen wieder lernen, sich wechselseitig überhaupt wahrzunehmen. Es ist an der Zeit, über ein öffentlich-rechtliches Angebot im Bereich sozialer Medien nachzudenken. In den Städten sollten die öffentlichen Verkehrsmittel endlich Vorrang haben. Damit aus dem öffentlichen Raum wieder ein solidarischer Raum werden kann, müssen sich gerade die Schwächsten und Verletzlichsten dort angstfrei aufhalten können. Dafür sollte die SPD sich einsetzen.
node:vw-infobox
ist Philosoph und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm „Zusammenleben. Über Kinder und Politik“ (Hanser Berlin 2018) und „Die Menge der Menschen. Eine Figur der politischen Ökologie“ (Kadmos 2019).