Wem gehört die Friedliche Revolution?
Im 30. Jahr nach Friedlicher Revolution, Sturz der Berliner Mauer und Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist erneut ein teilweise erbitterter Streit darüber entbrannt, wer diese Revolution veranlasst und zum Sieg geführt hat. Anders als die deutschen geschichtspolitischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte wird diese Auseinandersetzung vor allem zwischen Ostdeutschen geführt und von der Wahlkampfdemagogie der „Alternative für Deutschand“ im Osten Deutschlands befeuert.
Welche Rolle spielte Gorbatschow?
In diesem Streit herrscht Übereinstimmung, dass es keine eindimensionale Erklärung für die Revolution gibt. Dann endet aber auch schon die Einigkeit. Zwar geht kaum jemand ernsthaft von einer „Implosion“ der Diktatur aus, doch unterscheiden sich die Meinungen schon bei der Bewertung außen- und innenpolitischer Faktoren. Für die einen sind die Politiker des Westens sowie der sowjetische Reformkommunist Michael Gorbatschow entscheidend, während die anderen auf die Reformbewegungen und Revolutionsanläufe in Ostmitteleuropa verweisen.
Für beides gibt es Argumente, doch wird in aller Regel übersehen, dass Gorbatschow selbst ein Getriebener war, dem es zuallererst darum ging, die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion zu retten. Er verzichtete dabei außerhalb des eigenen Landes auf die Anwendung militärischer Gewalt, doch gilt das nicht für den Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegungen etwa im Baltikum oder im Kaukasus.
Entscheidend war das Engagement der Bürger
Wichtiger für die Frage, wem die Revolution 1989/90 gehört, sind jedoch die Geschehnisse in der DDR selbst. Diese sind nur zu verstehen, wenn man den wirtschaftlichen Niedergang der SED-Diktatur, die ökologische Katastrophe und den Verlust des Glaubens der Herrschenden an ihre eigene Sache ins Kalkül zieht. Entscheidend waren jedoch das Engagement der oppositionellen Bürgerbewegung, die Massenflucht von zehntausenden Ostdeutschen im Sommer 1989 und die riesigen Demonstrationen vom Herbst 1989 bis in das Jahr 1990 hinein.
Hier darf nicht übersehen werden, dass sich die Bürgerbewegung ab Mitte der 1980er Jahre zu sammeln begann, dass sie seit 1988 immer stärker in die Öffentlichkeit und auf die Straße ging. Waren es auch nur wenige tausend Mutige, die sich hier engagierten und kamen zu ihren Demonstrationen nur einige hundert Menschen, so waren sie in einer Diktatur von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Verstärkt von bundesdeutschen Medien zeigten sie den unzufriedenen Ostdeutschen, dass es möglich war, sich öffentlich zu wehren.
Glückliches Zusammenspiel auf den Straßen
Die Möglichkeit zur Selbstbefreiung und Selbstermächtigung durch Handeln ist mit wenigen Ausnahmen in einigen evangelischen Gemeinden herausgebildet worden und hier entstanden viele oppositionelle Strukturen. Und so sind nicht zufällig viele der ersten ostdeutschen Sozialdemokraten Theologen gewesen. Heute wird auch über die Ziele der Revolutionäre, über die Gründungsaufrufe der Sozialdemokratie oder des „Neuen Forums“ gestritten. So wird gefragt, ob eine Reform des Realsozialismus oder eine Zivilgesellschaft das Ziel war. Dabei wird oft übersehen, dass beides ein Ende der stalinistischen Diktatur bedeutet hätte.
Die Demonstrationen von Hunderttausenden waren dann ein glückliches Zusammenspiel zwischen Bürgerrechtlern und Menschen auf den Straßen. Es gab Aufrufe zu Demonstrationen, oft waren diese aber nicht nötig, sondern diese ergaben sich in der angespannten Situation spontan. Die Menschen auf den Straßen waren jedoch eine Minderheit. Eine Mehrheit „blieb hinter der Gardine“ oder lehnte Veränderungen ab. So wurde die übergroße Zahl der Ostdeutschen zu Handelnden erst nach dem Sturz der Mauer und bei den freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 – und dies mit dem Wunsch, im vereinten Deutschland möglichst schnell so wie die Westdeutschen zu leben.
Zumindest bis zur Wahl blieben die neu gegründeten Parteien und Bürgerbewegungen jedoch unverzichtbar: sie organisierten die „Runden Tische“, die Erstürmungen der Zentralen der Geheimpolizei, sie gründeten Zeitschriften sowie zahlreiche Bürgervereinigungen und organisierten auch die Wahlen.
Die Revolution gehört allen Demokraten
Zurückgekehrt zur Ausgangsfrage wäre eine erste Antwort, die Friedliche Revolution gehört allen, die die Diktatur aktiv bekämpften: sei es als Bürgerrechtler oder als Demonstrant. Das greift aber zu kurz. Die Revolution gehört zu den Grundbestandteilen des demokratischen Selbstbewusstseins der Bundesrepublik. Gleichzeitig ist sie für populistische Demagogen als Wahlkampfmunition tabu. Die Revolution gehört aber auch zu den deutschen Freiheitstraditionen, auf die wir – ohne die grauenvollen Verbrechen deutscher Täter besonders im Nationalsozialismus zu vergessen – stolz sein können, ja müssen.
Und wenn man den Blick auf den Zyklus mittelosteurpäischer Freiheitsrevolution 1989/90 weitet, so gehören sie zu den herausragenden Traditionen des vereinten Europas und zu den demokratischen Grundwerten des gesamten Westens. Letztlich gehören diese Revolutionen allen Demokraten im Kampf um Freiheit, Offenheit und Bürger- bzw. Menschenrechte.
war bis Ende September 2015 Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig und bis zu ihrer Auflösung Mitglied der Historischen Kommission der SPD.