Welche Lehren wir aus der ersten Weltumweltkonferenz ziehen müssen
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1972 ist ein klimapolitisch bedeutendes Jahr: Im März legt der Club of Rome mit „Die Grenzen des Wachstums“ die erste umfassende, fundierte Experten-Studie zur Zukunft des Planeten vor. Im Juni findet dann die erste Konferenz der UN zum Thema Umwelt statt. Beides frühe Meilensteine der internationalen Umweltpolitik.
Der Club of Rome beschrieb schon damals, dass Wirtschaft und Umwelt in eine Balance gebracht werden müssen. Je größer das Ungleichgewicht zwischen beiden, desto härter die ausgleichenden Anforderungen an uns Menschen. Es war klar: Ein „Weiter so“ darf es nicht geben.
Erstmals grenzüberschreitende Zusammenarbeit beim Umweltschutz
Auf der UN-Umweltkonferenz in Stockholm wurde ähnliches betont: Der Schutz der Erde diene gegenwärtigem und künftigem Leben. Ökonomie und Ökologie hingen zusammen. Der Naturschutz sei auch eine Frage sozialer Entwicklung. „Der Schutz und die Verbesserung der menschlichen Umwelt ist eine Kernaufgabe, die das Wohlbefinden der Völker und die ökonomische Entwicklung in der ganzen Welt betrifft.“
Mit der UN-Konferenz gelang erstmals eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Umweltschutz. Der Ansatz bereits damals: Umweltprobleme sozial, wirtschaftlich und entwicklungspolitisch lösen – im besten Sinne ganzheitlich und sozialdemokratisch. Auch ging von Stockholm der Impuls einer Institutionalisierung des Umweltschutzes aus mit der Gründung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP – United Nations Environment Programme).
Die Welt bewegt sich in die falsche Richtung
Und heute? Was hat die Menschheit daraus gemacht?
Die Wissenschaft warnt und konkretisiert seither die Szenarien. Sie beschreibt, wie der Planet Schaden nimmt und was dagegen unternommen werden kann. Exemplarisch dafür steht die berühmt gewordene Brundtland-Formel von 1987. Seit 35 Jahren und in der Tradition beider Ereignisse definiert sie Nachhaltigkeit als „Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“
Auch wurden – zumindest in Europa – Umwelterfolge gefeiert: reinere Luft, sauberere Flüsse. Also eine Erfolgsgeschichte?
Leider nicht, sondern im Gegenteil: Die Welt hat insgesamt noch einen Zahn zugelegt – in die falsche Richtung. Und dies unter kräftiger Beteiligung der westlichen Industriestaaten.
Die Grenzen sind überschritten
Vieles auf der Welt wächst: Die Verschmutzung von Boden, Luft und Wasser. Der Ressourcenhunger, der einen beispiellosen Raubbau nach sich zieht – sichtbar wie unsichtbar. Die (Über-)Produktion und der (Über-)Konsum. Die Eingriffe in unberührte Lebensräume. Die Müllberge. Die Ausbeutung – insbesondere auch von Menschen. Oder die globale Durchschnittstemperatur.
Und während bei der Erderwärmung die unmittelbar drohenden Belastungsgrenzen des Planeten noch nicht erreicht sind, sind diese in puncto Biodiversität, Artensterben und chemischer sowie biogeochemischer Aspekte schon längst erreicht und überschritten. Aber diese Tatsache wird häufig kaum beachtet.
Der Grad der Zerstörung des Planeten durch uns Menschen ist deutlich fortgeschritten. Unsere Wälder befinden sich in katastrophalen Zuständen – zuhause durch Klima- und Sturmschäden und etwa in den Tropen durch aggressive, großflächige Rodung. In jedem Fall bewirkt dies einen enormen Biomasseverlust mit allen negativen Konsequenzen. Die Bewirtschaftung geht trotzdem hier wie dort beinahe ungerührt weiter.
Flächenfraß und Wassermangel
Ein weiteres Problem gigantischen Ausmaßes sind der Flächenfraß und die (Oberflächen-)Versiegelung. Nicht nur in den Teilen der Welt, in denen die Bevölkerung zunimmt, sondern auch bei uns, wo die Einwohnerzahlen weitgehend stabil sind, nimmt der Flächenbedarf weiter zu.
Parallel verschärft sich der Wassermangel: Immer weniger anhaltender, gemäßigter Niederschlag und dafür immer mehr Extremwetter – das gilt für unser Land genauso wie für den Kontinent Afrika oder für Indien, wo erst vor kurzem neue Temperaturrekorde gemessen wurden. In den vergangenen Sommern war zeitweise auch in Teilen Deutschlands die Frischwasserversorgung am Limit – auch weil bei Hitze deutlich mehr Wasser privat gebraucht wurde. Und wenn es dann einmal regnen sollte, dann können die Böden die Feuchtigkeit aufgrund der Versiegelung nicht mehr aufsaugen. Auch eine Grundwasserneubildung bleibt aus. Stattdessen wird kanalisiert. Was dann bei Starkregen passieren kann, sehen wir immer häufiger: Zerstörerische Ereignisse wie etwa 2021 im Ahrtal.
Ernährung und Versorgung werden für die Menschen in den von dem Klimawandel besonders betroffenen Gebieten zur erheblichen Herausforderung. Aber auch vor unserer Tür wird die Landwirtschaft schwieriger. Dazu kommen Monokultur, (Über-)Düngung und Pestizide zur Ausbeutung der Böden. Nebeneffekt: Nützliche Flora und Fauna und Artenvielfalt sind auch in Gefahr. Oder andersherum gewendet: Die Gefahr von durchschlagenden Schädlingen und Krankheiten ist deutlich größer, sodass wir mit Gen-Technik und Chemie gegensteuern. Von den Effekten globalisierter Nahrungsketten und Modellen wie Großschlachtbetrieben einmal ganz abgesehen.
Die Krise ist noch nicht in den Köpfen angekommen
Im April dieses Jahres hieß es in einem UN-Bericht, die Menschheit unterschätze die Klimakrise. Wir sehen: Das ist leider nicht neu. Immer mehr Katastrophen warten auf uns – ein Risiko für die Menschen, für das Zusammenleben und die Wirtschaft, Gefahr von Verteilungskämpfen und Fluchtbewegungen. Ganz offenkundig – und das ist die frustrierende Erkenntnis – ist die Krise unseres Planeten noch nicht in den Köpfen angekommen: Beinahe überall gehen Flächenfraß, Zerstörung der Umwelt, Emission und Verbrauch munter weiter. Warum? Weil es eine mehrschichtige und zeitlich unbegrenzte Krise ist, vor die sich andere Krisen schieben.
Insbesondere die westlichen Industriestaaten – wir – leben krass über unsere Verhältnisse. Schon Anfang Mai war dieses Jahr der Erdüberlastungstag für Deutschland erreicht. Seither leben wir „auf Pump“. Wir müssen von unserem hohen Ross endlich herunterkommen – so wie bisher können wir nicht weiter machen! Wir können es uns nicht erlauben, auf technologische Lösungsversuche von morgen und Freiwilligkeit zu setzen. Unsere Bemühungen sind zu gering.
50 Jahre nach der ersten Klimakonferenz müssen wir erkennen: Die Industriestaaten haben trotz Einsicht und Handlungsfähigkeit weiter gewirtschaftet wie gehabt. Wir haben ein halbes Jahrhundert vertrödelt. Aber weil wir die Fehler der Vergangenheit nur in Gegenwart und Zukunft lösen können, wenden wir unseren Blick auch dorthin. Denn auch darin spiegelt sich unser Aufholbedarf.
Was wir jetzt tun müssen
Die Zeit ist knapp und arbeitet gegen uns. Wir müssen sofort handeln. Ganz im Sinne des Club of Rome müssen wir wieder für das Gleichgewicht von Wirtschaft und Umwelt arbeiten. Im Geiste der Stockholmer Erklärung müssen die Starken vorangehen und gemeinsam – entlang der Brundtland-Formel – nachhaltig agieren.
Deshalb muss Deutschland Ressourcen schonen. Es muss nicht nur seine Energieerzeugung umstellen, sondern aktiv Energiebedarfe und -verbrauche reduzieren. Noch ist die Energiewende zu stromfokussiert – es muss eine Wärmewende werden.
Das geht bei Immobilien weiter: mehr Umbau statt Abriss und Neubau. Es braucht mehr Versickerungsfläche und natürliche Gewässerläufe. Passend dazu ist es unsere Aufgabe, den Flächenbedarf wieder einzuhegen. Auch wenn es unpopulär ist: Zumindest in Ballungsgebieten ist die Zeit des Einfamilienhauses vorbei! Neubaugebiete müssen übergeordnet geplant werden, unabhängig vom monetären Leitstern der lokalen Politik. Dazu braucht es dann gegebenenfalls einen Ausgleichsmechanismus. Zudem sind neue Wohnkonzepte auch baulich zu berücksichtigen.
Parallel brauchen wir attraktivere Mobilität, auch virtuell. Wir brauchen keine neuen Fernstraßen mehr und auch keine Flüge unter circa 800 Kilometern. Auch Symbole wie sinnvolle Tempolimits sind erlaubt!
Ein neuer Umgang mit der Landwirtschaft
Bei der Ernährung sollte wieder mehr Saisonalität berücksichtigt werden. Zumindest die Grundnahrungsmittel sollten regionaler werden. Es gilt Monokultur und Überdüngung zu stoppen und Konzepte wie Massentierhaltung und Großschlachtbetriebe unattraktiv zu machen. Zugleich ist hier allen Beteiligten wie den Landwirt*innen zu helfen, stehen sie doch bereits jetzt stark unter Druck.
Wir müssen wieder in allen Bereichen mehr auf Regionalität setzen.
Der Umgang mit der Landschaft muss von uns wieder gelernt werden – vom Einschlag im Wald, über das Erfordernis des Wiesenrains, über Streuobstwiesen, Biotopvernetzung, Benutzung von Wegen bis hin zu städtischen Parks und dem eigenen Vorgarten. Die Landschaft muss statt kahler und leerer üppiger und reicher werden – und perspektivisch sogar mehr Kohlenstoff binden! Wir müssen das Wirtschaften mit der Natur in allen Räumen neu justieren.
Kreislaufgedanken und Recycling sollten neben niedrigeren Verbräuchen viel stärker verankert werden.
Zugleich sind schnellere, bedarfsgerechte Infrastrukturprojekte essenziell. Natur- und Klimaschutz dürfen dabei aber nicht gegeneinander ausgespielt werden. Beteiligung darf auch nicht übergewichtet werden, sodass die Interessen weniger das Gemeininteresse verhindern.
Klimaschutz aus der „linken Ecke“ herausholen
Die Erkenntnis ist elementar, dass Klimaschutz nur gelingt, wenn er von einer breiten Mehrheit unterstützt wird. Auch wenn es zunächst befremdlich klingt: Wir müssen Klimapolitik aus der „linken Ecke“ herausholen. Es ist Anliegen aller! Klimaschutz muss Bürgerinnen und Bürgern auch persönlich etwas bringen – also im Sinne von geringen Energiepreisen oder subjektiver Sicherheit – denn die großen Themen wie Unabhängigkeit Deutschlands: Die spürt der/die Endverbraucher*in kaum. Akzeptanz ist immer noch abhängig vom eigenen Geldbeutel. Daher braucht es auch mehr genossenschaftliche Ansätze.
Das alles ist teuer. Aber hier steht fest: Entweder wir lassen uns den Klimawandel jetzt etwas kosten oder die Kosten laufen später aus dem Ruder. Mit jeder verstrichenen Minute wird der Klimaschutz aufwendiger und teurer. Deshalb sollten wir auch nicht zu viel an Brückentechnologien denken, sondern es gleich richtig machen.
Neben dem bisher Skizzierten gilt: Klimaschutz muss global gedacht und regional verankert werden – Entwicklungsländer sind schon jetzt zu unterstützen. Klimaschutz ist, wenn er sozial ist, auch Demokratieschutz, Biodiversitätsschutz und Pandemieschutz. Klimaschutz braucht unterschiedliche Ansätze für Stadt und Land. Klimaschutz vereint neue Angebote mit einem gewissen Maß an Lenkung. Klimaschutz braucht sehr viele Fachleute, die noch fehlen. Klimaschutz erfordert Bildung aller.
Kurzum: Es handelt sich um eine nie dagewesene, epochale Herausforderung!
Der Wandel kann gelingen
Das Zeitfenster unseres Handelns schließt sich. Noch können wir hindurchschlüpfen und loslegen, aber es muss jetzt sein! Packen wir es endlich an, solange wir den Prozess noch steuern können!
Dafür brauchen wir eine bildungspolitische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation, die ökologisches Bewusstsein schafft, sozial gerecht bisherige Profiteure stärker beteiligt und Härten des Umbaus für Schwächere abfedert, Jobs und gute Arbeitsbedingungen schafft. Es ist der Nährboden für den Erfolg, wenn eine breite Mehrheit mitgenommen wird. Klimapolitik umfasst auch soziales Klima.
Was lehren uns die Jahrestage neben der erschreckenden Bilanz in der Rückschau? Dass die Menschheit auch etwas bewegen kann, wenn sich Menschen und Staaten zusammenschließen, um die Welt besser zu machen. Dass internationaler Dialog, selbst in konfliktreichen Zeiten, der Schlüssel ist. Für uns als Land: Wir müssen selbst etwas tun. Wir dürfen uns keine Gleichgültigkeit leisten, uns nicht freikaufen wollen und das Problem in andere Weltregionen verlagern. Geld auf Probleme zu schütten, hat sie noch nie gelöst.
Die Lehre lautet: Weg von der Wachstumslogik! Hin zu Zusammenarbeit! Ebenfalls können wir sehen: Es ist bekannt, was passiert und nicht zu leugnen. Mittlerweile nimmt das Bewusstsein für das Klima zu. Vor 50 Jahren wurde dieses Bewusstwerden maßgeblich geprägt.
Der Wandel kann uns gelingen.
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ist Mitglied des SPD-Klimaforums und der Arbeitsgruppe Green New Deal der Berliner SPD.