Meinung

Warum wir die 30-Stunden-Woche brauchen

Neuseelands Regierungschefin Jacinda Ardern ermuntert Unternehmen, die 4-Tage-Woche einzuführen. Auch in Deutschland ist es an der Zeit für eine allgemeine Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Die SPD sollte sich dafür stark machen.
von Kurtulus Özdemir · 27. Mai 2020
Im Takt der Stechuhr? Eine radikale Arbeitszeitreduzierung ist gesellschaftlich nützlich, ökonomisch sinnvoll und mittlerweile auch eine historische Notwendigkeit, meint Kurtulus Özdemir.
Im Takt der Stechuhr? Eine radikale Arbeitszeitreduzierung ist gesellschaftlich nützlich, ökonomisch sinnvoll und mittlerweile auch eine historische Notwendigkeit, meint Kurtulus Özdemir.

Jedes Mal, wenn in der öffentlichen Debatte die Forderung nach einer gesellschaftlich-allgemeinen Arbeitszeitverkürzung auftaucht, wird sie von ihren Gegnern auf eine „Idee“ reduziert und ihre Umsetzbarkeit anschließend in der Welt der Ideen widerlegt. Die geschichtlichen Tatsachen wischen jedoch alle dabei vorgebrachten Gegenargumente beiseite.

In gut 100 Jahren wurde die Arbeitszeit halbiert

Im Jahr 1875 betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland 72 Stunden, 1900 wurde sie gesetzlich auf 60 Stunden und 1918 auf 48 Stunden begrenzt. 1956 wurde die 5-Tage-Woche eingeführt. Und in den 80er Jahren führten die Gewerkschaften heftige Kämpfe zur Einführung der 35-Stunden-Woche, ehe diese bis Mitte der 90er Jahre hinein in Schlüsselindustrien teilweise umgesetzt wurde. Die tatsächliche Arbeitszeitreduzierung in diesem Zeitraum war indes noch größer, wenn man die zusätzliche Ausweitung der jährlichen Urlaubs- und Feiertage sowie die schrittweise Reduzierung des Renteneintrittsalters mitberücksichtigt.

Diese Entwicklung ging mit einer beispiellosen Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums und des Lebensstandards der Arbeitnehmer einher. Ermöglicht wurde und wird diese historische Entwicklung durch ständig bessere Verfahren und Techniken in der Produktion sowie modernere Verkehrs- und Kommunikationsmittel, deren Einführung eine Überlebensfrage für jedes kapitalistische Unternehmen darstellt. Zunehmend kann mit der gleichen Arbeitsmenge eine stets höhere Quantität und/ oder Qualität von Waren produziert werden.

Die Arbeitsproduktivität steigt

Dieser Zusammenhang wird in dem wissenschaftlichen Begriff „Arbeitsproduktivität“ erfasst und quantifiziert. Zwischen 1870 und 2015 stieg die Arbeitsproduktivität jährlich im Durchschnitt um 2,2 Prozent an; für diesen Zeitraum entspricht das einem Faktor von 23. Übersetzt heißt das: Ein Landwirt kann heute 23 Mal mehr Menschen ernähren als im Jahre 1870. Es gibt Berechnungen, die auf einen höheren Faktor hindeuten. Ähnliches gilt auch für den Industrie- und Dienstleistungssektor.

Solange die Nachfrage nach seinen Waren auf dem Markt keine Grenze erreicht, nutzt der Kapitaleigentümer die Steigerung der Arbeitsproduktivität aus, um mit der gleichen Arbeiteranzahl eine größere Menge an Waren produzieren zu lassen. Stößt aber die kapitalistische Produktionsweise wie seit den 1970er Jahren vermehrt und immer häufiger auf ihre nachfragebedingten Grenzen, nutzt er dieselbe Steigerung der Arbeitsproduktivität aus, um die gleiche Menge an Waren mit immer weniger Arbeitern zu produzieren. Das führt zu einer Form der Arbeitslosigkeit, die konjunkturunabhängig und daher besonders hartnäckig ist – sie ist strukturell.

Arbeitslosigkeit bedeutet Ausschluss

Der statistische Schleier schützt immer weniger vor dem Anblick dieser modernen Medusa. 2018 waren in Deutschland 2,3 Millionen Menschen offiziell als arbeitslos gemeldet. Weitere 850.000 waren statistisch herausgerechnet und 350.000 gehörten zur sogenannten stillen Reserve. Hinzu kamen vier Millionen der insgesamt 12 Millionen Teilzeitbeschäftigten, die laut Studien unfreiwillig in dieser Lage waren.

Arbeitslosigkeit bedeutet Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben und Existenzunsicherheit. Der Konkurrenzkampf mit den aus dem Produktionsprozess Ausgestoßenen hat auch Auswirkungen auf die Vollzeitbeschäftigten, die sich vermehrt mit sinkenden Löhnen und Rekordüberstunden konfrontiert sehen. Die Schneise der Zerstörung im gesellschaftlichen Gewebe ist bedrückend. Innerhalb eines Jahres erfüllen 25 Prozent der erwachsenen Bevölkerung die Kriterien einer psychischen Störung. Und welcher Charaktertyp entwickelt sich da eigentlich in diesem dauernden Konkurrenzkampf auch bei jenen, die lediglich nicht auffällig werden, weil sie psychisch noch funktionieren?

Die polit-ökonomischen Folgen sind besorgniserregend. Falls die Krise des Reproduktionsprozesses offen ausbricht, wird sie in alle Ebenen der Gesellschaft durchschlagen. Die hässliche Fratze des Faschismus zeigt sich in ganz Europa immer häufiger und ungeschminkter und wartet auf den Zeitpunkt, bis Finanzmärkte und Wirtschaft in Stocken geraten.

Wir brauchen ein echtes Transformationsprojekt

Die bisherigen Rezepte wirken nicht. Die Politik der Agenda 2010 hat das Problem der Arbeitslosigkeit nicht nur nicht gelöst, sondern zum Teil verstärkt und verankert. Und sie hat zu einer beträchtlichen Verschlechterung der Lebenslage und Steigerung der Existenzunsicherheit großer Teile der Bevölkerung geführt.

Deshalb benötigen wir ein realistisches Transformationsprojekt, das das zentrale Problem der Massenarbeitslosigkeit löst und darüber hinaus Ausstrahlungskraft für die Lösung weiterer gesellschaftlicher Probleme besitzt. Es ist wieder an der Zeit, das Projekt zur gesetzlichen Durchsetzung einer gesellschaftlich-allgemeinen Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohn- und Personalausgleich auf unsere Fahnen zu schreiben.

Eine neue Stelle auf vier Vollzeitbeschäftigte

Hierfür könnte die durchschnittliche Wochenarbeitszeit nach Berechnungen progressiver Wissenschaftler innerhalb weniger Jahre gesetzlich auf zunächst 30 Stunden reduziert werden. Durch den gesetzlich vorgeschriebenen Personalausgleich würde rechnerisch auf je vier Vollzeitbeschäftigte eine neue offene Stelle entstehen. Praktische Vorschläge zur Realisierung des gesetzlichen Personalausgleiches existieren bereits z.B. in Form eines Ampelsystems, das in Abhängigkeit der Gesamtbetriebsüberstunden zu Neueinstellungen verpflichten könnte.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Beschäftigten gewönnen Lebensqualität durch weniger Arbeitszeit und Stress, die bisherigen Arbeitslosen hingegen durch Teilhabe und Zukunftsperspektive. Der Abbau des menschenunwürdigen Kampfes auf den Arbeitsmärkten würde sowohl den Druck auf das allgemeine Lohnniveau als auch jenen auf die Psyche reduzieren. Dies und der gesetzlich vorgeschriebene volle Lohnausgleich sorgten für eine deutliche Akzeptanz dieses Projektes.

Eine Arbeitszeitverkürzung ist gesellschaftlich nützlich

Gesamtwirtschaftlich würde der volle Lohnausgleich zu einer Umverteilung des Volkseinkommens „von oben nach unten“ und zur Stärkung der Binnennachfrage (und somit zu einer Reduzierung der schädlichen Exportabhängigkeit) führen, da die zuvor niedrige Alimentierung der Arbeitslosen auf das Niveau der Bezahlung der Vollzeitbeschäftigten anstiege.

Durch den Wegfall der direkten fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit, die direkte staatliche Ausgaben und entgangene Steuern und Sozialversicherungsbeiträge beinhalten, hätte der Staat jährlich etwa 50 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Mit diesem Betrag könnten andere gesellschaftliche Projekte wie z.B. der Kampf gegen den Klimawandel vorangetrieben werden.

Eine radikale, gesellschaftlich-allgemeine Arbeitszeitreduzierung ist gesellschaftlich nützlich, ökonomisch sinnvoll und mittlerweile auch eine historische Notwendigkeit. Dies anzuerkennen und in die öffentliche Debatte zu tragen, ist die Aufgabe des fortschrittlich denkenden Teils der Gesellschaft.

Arbeitszeitverkürzung ist ein Projekt für die SPD

Allerdings widerspricht sie den Interessen der Kapitaleigentümer. Ihre Umsetzung bedarf politischer Auseinandersetzungen. Dabei wird es in erster Linie um das Bewusstsein der Menschen gehen, denen das Träumen von einer besseren Welt längst ausgetrieben wurde. Einmal in Gang gesetzt und ihre Wirkung entfaltend, würde dieses Projekt die behauptete Alternativlosigkeit der bisherigen neoliberalen Ideologie der Lächerlichkeit preisgeben und den Menschen Mut einflößen, weitere Projekte in Angriff zu nehmen.

Die SPD muss endlich mit den Fehlern ihrer Vergangenheit abrechnen und wieder zu jenem sozialdemokratischen Menschen- und Gesellschaftsbild zurückfinden, um das sich die Menschen früher versammelt haben. Mit dem Anstoß zu diesem Projekt würde sie nach innen und außen das Signal für ihre eigene Erneuerung geben.

Autor*in
Kurtulus Özdemir

ist Diplom-Ingenieur und SPD-Mitglied in Hannover.

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