Warum Solidarität in der neuen Arbeitswelt besonders wichtig ist
Florian Gaertner/photothek.net
„Es ist Zeit für mehr Solidarität“, ist oft zu hören, und öfter noch: „Solidarität ist verloren gegangen.“ Letzteres kommt gerne als Klage daher, ersteres als trotzige Forderung. Es ist ein Urteil, das aus dem Erleben vieler Menschen kommt, und deswegen vielleicht auch nicht immer völlig präzise ist: Dass das Gemeinsame verloren gegangen sei, man sich auf Zusammenhalt nicht mehr verlassen könne. Diagnose einer gesellschaftlichen Verwüstung, dass jeder nur mehr Einzelkämpfer sei. „Ich kümmere mich nur mehr um mich selbst“, die häufig gehörte Formel ist Ausdruck eines demoralisierten Individualismus, der nichts Stolzes oder Kraftvolles hat.
Beschäftigte werden zu „Einzelkämpfern“
Aber was sind die Gründe dafür? Da ist zunächst einmal der soziale Wandel, der Lebenswelten unterspülte: die industriellen Großbetriebe, mit ihren Hunderten und Tausenden von Arbeitern und Angestellten, die sich automatisch als „Ähnliche“ erlebten. Die Stadtviertel und Vororte, in denen „Ähnliche“ zusammen lebten. Das instinktive Gefühl des Gemeinsamen. Heterogenität von Lebensvollzügen untergräbt diese Form von Solidarität.
Zeitgleich vollzieht sich seit dreißig, vierzig Jahren ein permanenter Strukturwandel der Arbeitswelt, der nicht nur zu den bekannten Strukturkrisen einzelner Branchen führt, sondern zu permanentem Rationalisierungsdruck in allen Branchen. In den Unternehmen wurden die Beschäftigten zu „Einzelkämpfern“, von denen „jeder hoffte, irgendwie ungeschoren davonzukommen“ (so der Wirtschaftshistoriker Lutz Raphael), was praktisch überall mit einem „Verlust innerbetrieblicher Solidarität“ einhergeht.
Der Aufstieg des Individuums
Aber die Norm der Solidarität wäre nicht so aus der Mode gekommen, hätte man das den Subjekten nicht auch schmackhaft gemacht: durch den Aufstieg der Idee des Individualismus, der Vorstellung, dass jeder ein unverwechselbares Individuum sei, das seine besonderen Talente, sein unverwechselbares Ich zu entwickeln habe. Jene Idee der „Singularität“, die der Soziologe Andreas Reckwitz so packend analysierte, und hinter die es natürlich kein Zurück mehr gibt. Historische Prozesse sind immer voller Paradoxien, und just die Sicherheiten des Sozialstaates erlaubten, sich aus dem Nahbereich abzunabeln. „Der Wohlfahrtsstaat ist ein mächtiger Faktor des Individualismus“ (Marcel Gauchet, französischer Philosoph/Historiker).
Aber in der atomisierten Ego-Gesellschaft, in der es viel Konkurrenz gegeneinander, aber wenig Sicherheiten von Gemeinschaft gibt, schlägt all das um in eine gesellschaftliche Pathologie und lässt die Sehnsucht, das Begehren nach Solidarität wieder erwachen.
Solidarität: vom Kampf- zum Daseinsbegriff
Aber welche Solidarität wird nun ersehnt? Denn was Solidarität sei, ist gar nicht so klar. Sie war einmal ein Kampfbegriff, die Idee von der Stärke der Schwachen, die darin liegt, dass sie zusammenhalten. Man hilft sich wechselseitig, aber nur halb aus Altruismus, zur anderen Hälfte aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Vom Kampfbegriff wurde sie aber auch zu einem Daseinsbegrif wie etwa in den lebensweltlichen Banden sozialdemokratischen Vereinswesens (Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee).
Institutionelle Solidarität, wie sie etwa die Einrichtungen des Sozialstaats etablieren, ist wieder etwas anderes. Man leistet seine Beiträge, weil man weiß, dass man selbst in eine Lage kommen kann, wo man Leistungen in Anspruch nehmen muss oder weil man weiß, dass man auch persönlich von einem wohlgeordneten Gemeinwesen profitiert. Institutionelle Solidarität ist eine Solidarität mit Unbekannten. Umkämpft ist daher auch immer, wer zur Solidargemeinschaft dazugehört. Die ganze Welt? Alle im Land? Nur die, die man als „unsere Leute“ ansieht?
Was heute ersehnt wird, ist eine lebensweltliche, existenzielle Sicherheit, dass der Boden unter den Füßen nicht permanent wackelig ist; dass der Stress der gegenseitigen Konkurrenz, die das ganze Leben prägt, verschwindet; aber auch ein Zusammenhalt in Gemeinschaften, etwas weniger Gereiztheit, und Räume der Vertrautheit. Es gibt auch ein Leiden an der Vereinzelung und das Bedürfnis nach Gemeinschaftserlebnissen. Es sind recht diffuse Bedürfnisse, die sich in dem Satz verdichten: „Zeit für mehr Solidarität.“