Warum ein Wahlrecht für Kinder der Demokratie guttun würde
Ute Grabowsky/photothek.net
Wenige Tage nach der Geburt unseres Sohnes habe ich bei meinem Arbeitgeber einen Antrag auf Elternzeit für anderthalb Jahre gestellt. Eigentlich wollten meine Frau und ich alles teilen, die Betreuung, die Hausarbeit und die Erwerbsarbeit. Aufgrund eines Angebots für eine neue Stelle, das meine Frau wenige Monate vor der Geburt bekommen hatte, kam es jedoch anders. Und ich fand mich als Hausmann wieder, meine Frau sich als Alleinverdienerin. Natürlich wusste ich nicht, worauf ich mich eingelassen hatte. Den ganzen Tag mit einem Kind zu verbringen, das auf einen angewiesen ist, hinterlässt tiefe Spuren im psychischen Bau. Die Räume der Innerlichkeit schrumpfen. Das Gefühl für die eigene Geschichte lässt nach. Vergangenheit und Zukunft werden undeutlicher.
Die Elternzeit veränderte die Perspektive
In den ersten sechs Monaten haben meine Frau und ich versucht, möglichst viel gemeinsam zu machen. Danach ist meine Frau wieder in ihren Beruf zurückgekehrt, und ich habe die Tage allein mit unserem Sohn verbracht. In dieser Zeit kam mir alles sehr gegenwärtig vor. Im beruflichen Alltag wird vieles über einen langen Zeitraum hin geplant. Jetzt gab es immer etwas, das keinen Aufschub duldete, das meine Absicht, was ich als nächstes tun wollte, durchkreuzte. Ich konnte es mir nicht mehr leisten, nur meine eigene Perspektive zu haben. Das Wichtigste war, für unseren Sohn da zu sein. Auch wenn die Tage voller Erlebnisse waren, fiel es mir schwer, abends meiner Frau davon zu berichten. Jahrelang waren meine Rückblicke auf den Tag durch die berufliche Sicht geprägt. Nun musste ich erfahren, dass das Ich, das sich in der Welt behauptet, nur wenig mit einem Ich gemeinsam hat, das sich der Sorge um ein Kind widmet.
Obwohl diese Erfahrung vor allem von Frauen seit vielen Generationen gemacht wird, kommt sie in den vorherrschenden Bildern, die wir von unserem Selbst haben, kaum vor. Wir haben Erlebnisse, treffen Entscheidungen, wollen erfolgreich sein, sind enttäuscht und niedergeschlagen, aber die Sorge um ein Kind hat nur wenige Spuren in den Auffassungen darüber hinterlassen, was unser Selbst eigentlich ausmacht. Das Vokabular, mit denen das moderne Ich erfasst wird, ist weitgehend unberührt geblieben von den Bindungen zwischen Eltern und Kindern. Es ist viel über die Freiheit des Ichs geschrieben worden, über seine Fähigkeit, sich im Denken und Handeln selbst zu bestimmen. Häufig steht die Selbstbeziehung im Vordergrund, die das Ich ausmacht. Obwohl die Familie im Leben der meisten Menschen eine wichtige Rolle spielt, finden sich in der philosophischen Tradition kaum Betrachtungen, in denen die Familie und ihre Bindungen ein wesentliches Thema darstellen.
Familie und Demokratie gehören zusammen
Als meine Frau und ich gemeinsam die Entscheidung getroffen haben, dass zunächst ich mich vorwiegend um die Betreuung unseres Sohnes kümmern werde, war uns nicht klar, dass das immer noch eine ziemliche Ausnahme darstellt. Bei den meisten Paaren ist es umgekehrt. Die Frau setzt in der Regel deutlich länger aus. Und der Mann nimmt, wenn überhaupt, die gesetzliche Mindestzeit, um Elterngeld beziehen zu können. Oft sind dann beide gleichzeitig zu Hause, was dazu führt, dass der Mann nie alleine die Verantwortung trägt.
Trotz aller Neuerungen, die der Feminismus herbeigeführt hat, ist die Familienarbeit häufig immer noch sehr traditionell aufgeteilt. Und dennoch gehört die aktive Vaterschaft laut der International Labour Organization vermutlich zu den wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen des 21. Jahrhunderts. Dass Väter zunehmend Anteil an der Fürsorge haben, wird über die neuen Beziehungen hinaus auch gesellschaftliche Auswirkungen haben. Wenn immer mehr Väter und Mütter die Erfahrungen, die sie zu Hause machen, mit in die berufliche und politische Welt nehmen, wird sich diese Welt verändern. Denn das private Familienleben und die politische Demokratie hängen weit enger zusammen, als uns das bewusst ist.
Demokratie bedeutet, die politische Macht zu teilen. Nicht einer soll herrschen, auch nicht mehrere, sondern alle. Das gilt ebenso für das Gemeinwesen wie für die Familie. In der patriarchalen Familie herrscht nur einer. Alle anderen haben sich unterzuordnen und sollen gehorchen. Als sich die Frauen das Wahlrecht erkämpft hatten und entsprechend repräsentiert wurden, ist nicht nur die demokratische Teilhabe deutlich erweitert worden. Zugleich wurde auch die Familie demokratisiert. Teilhabe am öffentlichen Raum bedeutet zugleich Mitsprache im privaten Haus.
Ein Wahlrecht von Geburt an
Heute stehen wir vor dem Problem, dass auch die Kinder repräsentiert werden müssen. Denn sie gehören ebenso wie die Männer und Frauen dazu und haben ihren eigenen Willen, der sich früher äußert, als das gemeinhin angenommen wird, und zwar sowohl in der Familie als auch in der Politik. Die Demokratie lässt sich vielleicht niemals vollenden. Aber ein Wahlrecht von Geburt an wäre ein entscheidender Schritt in diese Richtung.
Um begreifen zu können, dass die politische Forderung nach einem Wahlrecht von Geburt an keine Nebensächlichkeit ist, sondern ins Zentrum der Demokratie führt, muss man sich den Zusammenhang von Familie und Politik deutlich machen. Denn die Demokratie besteht nicht nur einfach darin, dass mündige Bürger ihre politischen Stellvertreter wählen dürfen. Sie hat ihre Voraussetzung in einer demokratischen Familie, ohne die es keine mündigen Bürger gäbe. Nur wenn die Familien selbständig sind, können auch die Kinder zur Selbständigkeit erzogen werden.
Die familiäre und die politische Demokratie
Über Jahrhunderte galt die Gehorsamkeit gegenüber der Familie als oberstes Erziehungsziel. Aber ohne die Selbständigkeit der Kinder bilden Familien eine politische Macht aus, die nicht mit der Demokratie vereinbar ist. Die Kette von einer Generation zur nächsten zu unterbrechen, gehört zu den existenziellen Bedingungen der Demokratie. Jede Demokratie ist darauf angewiesen, dass die politische Diskussion nicht abbricht. Von jeder Generation muss sie erneut geführt werden. Und nur unter den Bedingungen einer demokratischen Familie ist es auch den Eltern möglich, von ihren Kindern zu lernen.
Die Entmachtung der Patriarchen kommt allerdings nicht nur den Frauen und Kindern zugute, sondern auch den Männern. Erst die demokratische Familie lässt sie Anteil an einer Gemeinschaft haben, für deren Wohlergehen die Fähigkeit zentral ist, sich in andere einfühlen zu können. Von dieser Fähigkeit lebt sowohl die familiäre als auch die politische Demokratie. Aus diesem Grund ist es wichtig, nicht nur die Familie zu demokratisieren, sondern umgekehrt auch der Familie einen gewichtigen Stellenwert in der politischen Demokratie einzuräumen. Früher wurde nur Männern der Zugang zur Politik gewährt. Heute halten wir es für selbstverständlich, dass den Frauen das gleiche Recht zusteht. Es fehlen die Kinder. Die liberale Demokratie ist eine große historische Errungenschaft. Aber es ist an der Zeit, sie weiterzuentwickeln.
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geboren 1969, ist Philosoph und Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien sein Essay: „Zusammenleben. Über Kinder und Politik“ (Hanser Berlin)